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WITNESS WOUNDS – Witness Wounds

2025 (Arsenic Solaris) - Stil: Avant, Experimental, Noise-Metal

Manchmal entstehen die eindrucksvollsten musikalischen Begegnungen dort, wo unterschiedliche künstlerische Lebenslinien aufeinandertreffen. ´Witness Wounds´ ist genau so ein Werk. Es entspringt dem Zusammenfluss zweier Duos, die aus völlig verschiedenen ästhetischen Welten stammen und doch dieselbe Unruhe in sich tragen: TOMORROW I FEEL WRONG, bestehend aus Sara Trawöger und Kristin Gerwien, und P/O MASSACRE mit Anton Ponomarev und Anton Obrazeena. Dass ihre Wege 2021 beim XCITING Festival in Stuttgart erstmals kreuzten, wirkt im Rückblick wie der Auftakt zu einer folgerichtigen Entwicklung, deren eigentliche Kraft jedoch erst später spürbar wurde.

Im Frühjahr 2022 zogen sich die vier Musikerinnen und Musiker für drei Wochen in das “Theater neben dem Turm” in Marburg zurück, unterstützt von Toningenieur Andrey Gankin sowie den visuellen Künstlern Laura Salerno und Johannes Schropp. Die Atmosphäre dieser Residenz – abgeschieden, konzentriert, mit Raum für langsames Hören und radikales Ausprobieren – hinterließ tiefe Spuren in ihrer Arbeit. Aus improvisierten Gesten wurden Formen, aus offenen Spannungen verdichtete sich Struktur, und aus der Begegnung zweier Duos formte sich eine gemeinsame Stimme. Diese Stimme trägt nun den Namen WITNESS WOUNDS und entfaltet sich auf ihrem selbstbetitelten Debüt in einer Intensität, die von Beginn an das Gefühl einer Verwandlung vermittelt.

Bereits ´The Sea´ öffnet eine akustische Landschaft, die Strömungen freilegt. Die Musik wirkt wie ein Element, das sich selbst modelliert. Gitarren und Elektronik schwellen an und ziehen sich zurück, Stimmen verschmelzen mit perkussiven Impulsen, und Anton Ponomarevs Saxophon stößt wie ein aufbrechendes Licht durch die raue Oberfläche. Die beiden Teile von ´The Warden´ greifen diesen Zustand unterschiedlich auf. Im ersten Teil entsteht eine fragile Balance aus Aufruhr und Stille, getragen von Kristin Gerwiens Stimme, die sich nicht in melodischer Führung erschöpft, sondern eher als Instrument der Verdichtung wirkt. Der zweite Teil wendet sich einer kälteren, kantigeren Energie zu. Die Musik hebt sich wie ein dunkler Nebel vom Boden und wird von Anton Obrazeenas Gitarre zerschnitten, während Schlagwerk, Elektronik und Saxophon kollidieren.

´The Witness´ bringt eine andere Seite des Kollektivs zum Vorschein. Hier entsteht eine Atmosphäre, die stärker von Stimme und akustischer Nähe geprägt ist. Man spürt, wie Sara Trawöger und Kristin Gerwien ihre vokalen Gesten hinaustragen, gebrochen und suchend. Zusammen mit den unvorhersehbaren Einwürfen der Elektronik bildet sich ein Raum, der zugleich intim und beunruhigend wirkt. Das abschließende ´Music For Mouse´ löst die zuvor aufgebaute Spannung nicht auf, sondern verwandelt sie in etwas Leichteres, zugleich Schärferes. Hier zeigt sich die Spielfreude des Ensembles, das seine Mittel präzise einsetzt. Kleine Rhythmen winden sich durch das Klangbild, fragile Melodien bröckeln, elektronische Strukturen knistern. Die Musik bleibt dabei allzeit in Bewegung.

Das Debüt von WITNESS WOUNDS ist ein von innen heraus glühender Brocken Avantgarde, ein Werk, das die Grenzen zwischen Noise, Improvisation, experimenteller Performance und vollkommen freier Klangforschung durchlässig macht, ohne sich je in Beliebigkeit zu verlieren. Man spürt, dass alles das Ergebnis eines intensiven Miteinanders ist. In einer Zeit, in der vieles glattgeschliffen und kalkuliert erscheint, wirkt diese Musik wie eine Erinnerung daran, dass Kunst aus Risiko entsteht.

(8 Punkte)

https://arsenicsolaris.bandcamp.com/album/witness-wounds


(VÖ: 5.12.2025)

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