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THE AFGHAN WHIGS – Gentlemen

1993/2025 (Elektra/Sub Pop) - Stil: Alternative Rock

Nach ´Congregation´ war klar, dass Greg Dulli und seine AFGHAN WHIGS mehr wollten als bloß ein weiteres Grunge-Kapitel. ´Gentlemen´ wurde ihr Befreiungsschlag – ein zerrissenes, hoch aufgeladenes Werk, das Soul, Rock und Selbstzerstörung zu einem dichten Songzyklus verdichtet. Hier spricht ein Mann, der seine eigene Verdammnis mit Genuss beschreibt, in Songs, die wie Szenen eines Films wirken. Und tatsächlich wurde das Album nicht einfach „aufgenommen“, sondern aussagegemäß „on location shot“. Dementsprechend klingt es auch so real, gefährlich und hautnah.

Aufgenommen in Memphis, im legendären “Ardent Studio” – dort, wo einst BIG STAR und ZZ TOP ihre Magie konservierten –, destillieren die Whigs ihren bisher komplexesten Sound. Zwischen Südstaaten-Schwüle, Al-Green-Geistern und Zigarettenrauch wächst ein Album, das gleichermaßen Beichte und Anklage ist. Greg Dulli, getrieben, verletzt, brillant, seziert die männliche Hybris mit der Präzision eines Chirurgen, der sein eigenes Herz aufschneidet.

´If I Were Going´ öffnet das Album wie ein dumpfer Puls, ein sich langsam regender Gedanke zwischen Resignation und Aufbruch. Der Titeltrack ´Gentlemen´ legt danach die Karten auf den Tisch. Schneidende Gitarren, Greg Dullis Stimme zwischen Zynismus und Selbstmitleid, ein Bekenntnis und eine Kapitulation zugleich. ´Be Sweet´ bringt mit der Zeile „I’ve got a dick for a brain“ das Thema auf den Punkt, maskuline Dummheit, verpackt in ein Funk-Riff, das selbst Prince Respekt abgerungen hätte.

Das Kernstück der Platte bleibt ´When We Two Parted´, ein schmerzlicher, fast filmisch inszenierter Bruchmoment. Über elegische Gitarren und ein nervöses Schlagzeug schwankt Greg Dulli zwischen Sehnsucht und Verachtung. Kaum ein Song hat die Widersprüchlichkeit der frühen Neunziger – Stolz, Selbsthass, Sex, Reue – so verdichtet. Später, in ´What Jail Is Like´, wird aus der Beichte ein Manifest. Piano, Schlagzeug und Stimme befinden sich im Clinch, während Greg Dulli jede Zeile wie Gift ausspuckt.

Dann der Perspektivwechsel. ´My Curse´, gesungen von Marcy Mays (SCRAWL). Eine weibliche Stimme mitten in einem Album über männliche Schuld – und sie zerlegt Greg Dullis Pose mit einem einzigen Atemzug. Ihr brüchiger Gesang ist der emotionale Höhepunkt, das Herzpochen des Albums: „Curse softly to me, baby, and smother me in your love“ – so leise, so zerstörerisch.

Musikalisch ist ´Gentlemen´ ein Triumph des Understatements. Steve Earles Drumming ist so präzise wie emotional, John Curleys Bass wühlt tief im Soul, während Rick McCollums Gitarren wie Glasscherben funkeln. Die Band spielt tighter als je zuvor, fast schon zu kontrolliert für das Chaos, das sie beschreibt. Und doch lauert in jedem Break die Explosion.

Die Einflüsse? Mehr Stax als Seattle, mehr Isaac Hayes als Iggy Pop. Diese Platte riecht nach Whiskey und kaltem Schweiß, nicht nach Teen Spirit. Greg Dulli kanalisiert Van Morrisons ´Astral Weeks´ durch die Drecksarbeit eines gebrochenen 90s-Herzens. Seine Songs klingen, als ob jemand Curtis Mayfield und The Pixies in einem brennenden Motelzimmer eingeschlossen hätte.

´I Keep Coming Back´ – das Cover des 1970er Tyrone Davis-Songs – fügt sich nahtlos ein, als hätte es Greg Dulli selbst geschrieben. Es ist der Moment, in dem Soul und Grunge, Schmerz und Größe ununterscheidbar werden. Das abschließende ´Brother Woodrow / Closing Prayer´ klingt wie ein Gebet ohne Hoffnung: Cello, Geräusche, langsam verglühende Akkorde – der Film endet, das Licht bleibt aus.

´Gentlemen´ ist kein Konzeptalbum im klassischen Sinn, sondern ein Zyklus, ein Kreislauf aus Versuchung, Verletzung und Wiederholung. Der Anfang spiegelt das Ende. Dazwischen eine Reise durch männliche Schuld, Stolz und Verzweiflung. Greg Dulli spielt nicht den Helden, er spielt den Täter, das Opfer, den Richter zugleich.

Über dreißig Jahre später bleibt ´Gentlemen´ eines der wenigen Alben, das mit jeder Wiederkehr härter trifft. Endlich wieder auf Vinyl, auf “Canary Yellow”. Kein nostalgischer Grunge-Klassiker, sondern ein dunkler Soulfilm auf Vinyl, der auf “Canary Yellow” allerdings nur in der US-Pressung tadellos tönt. Ein Album, das nicht altert, weil es von Dingen erzählt, die nie verschwinden: Begehren, Versagen, Erlösung.

Ein Meisterwerk des emotionalen Realismus, da roh, erotisch und brutal ehrlich. ´Gentlemen´ ist das Album, das den Begriff „Alternative“ wirklich verdient. Zwischen Memphis-Soul und Cincinnati-Sünde, zwischen Sünde und Sakrament. Wenn ´Congregation´ der Ursprung war und ´Uptown Avondale´ die Erleuchtung, dann ist ´Gentlemen´ das Geständnis.

https://www.facebook.com/TheAfghanWhigsOfficial

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