
YES – Close To The Edge
1972/2025 (Analogue Productions/Atlantic 75 Series) - Stil: Progressive Rock
Als YES nach ihrem gefeierten 1971er Werk ´Fragile´ wieder ins Studio gingen, befand sich die Band auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität – und kurz davor, auseinanderzubrechen. ´Fragile´ hatte ihnen nicht nur mit ´Roundabout´ ihren ersten großen US-Hit beschert, sondern auch das Tor zu einer neuen musikalischen Welt geöffnet. Komplexe Strukturen, klassische Einflüsse und Solotracks für jedes Bandmitglied bildeten fortan den musikalischen Maßstab und mit der Premiere des legendären Roger Dean-Artworks fanden YES ihr visuelles Zuhause.
Doch im Gegensatz zu ´Fragile´, das ein wenig wie eine Sammlung unterschiedlicher Teile wirkte, formte sich nun etwas durch und durch Geschlossenes. Die Tournee zu ´Fragile´ war triumphal, aber auch anstrengend. Nach einer kurzen Pause im Anschluss fanden Jon Anderson, Steve Howe, Chris Squire, Bill Bruford und Rick Wakeman im Frühling 1972 wieder in London zusammen, kurioserweise zu den ersten Proben in einer Tanzschule. Obwohl noch körperlich ausgelaugt, war die Band voller Ideen. Die kreative Spannung war greifbar, denn das, was in jenen Tagen entstand, sollte zu einem der legendärsten Werke des Progressive Rock werden: ´Close To The Edge´.
Die Produktion von ´Close To The Edge´ war allerdings ein echter Kraftakt, kreativ, wagemutig und manchmal grenzüberschreitend. Produzent Eddy Offord baute im Studio eine Bühne, um das Live-Gefühl der Band einzufangen, ließ Mikrofone durch den Raum schwingen und fing sogar Vogelgezwitscher für das Intro der ersten Seite ein. Ein verlorenes Tonband musste buchstäblich aus dem Müll gefischt werden und einer Anekdote zufolge wurden während der Aufnahmen von einer Reinigungskraft versehentlich Tonbandschnipsel entsorgt, die eigentlich noch für eine Komposition vorgesehen waren.
Jon Anderson, ohnehin ein spiritueller Träumer, brach nach einer besonders intensiven Session in Tränen aus, vor Erschöpfung, aber auch vor Glück. Seine Texte, oft impressionistisch und rätselhaft, schöpften diesmal aus spirituellen Quellen wie Hermann Hesses “Siddhartha”. Doch nicht alle waren beseelt. Drummer Bill Bruford war frustriert von der peniblen Detailverliebtheit der Band. Die endlosen Diskussionen über jeden Ton zermürbten ihn. Direkt nach den Aufnahmen verließ er YES und schloss sich KING CRIMSON an. Ein dramatischer Abgang, der zeigt, wie viel Emotionen und Energie in dieses Album flossen.
´Close To The Edge´ erschien ursprünglich am 8. September 1972. Zum 75-jährigen Jubiläum von „Atlantic Records“ kommt das fünfte Studioalbum derzeit im echten Goldstandard auf Vinyl heraus.
„Analogue Productions“ haben sich dem Jubiläum angeschlossen und veröffentlichen die Scheibe ihrerseits auf einem 180g schweren Doppel-Vinyl mit 45 rpm, natürlich gepresst bei „Quality Record Pressings“, vom analogen Original-Masterband von Kevin Gray gemastert, in einem aufklappbaren, massiven und fühlbar strukturierten Gatefold Pocket Jacket.
Die bekannte Zusammenarbeit von „Acoustic Sounds“, „Analogue Productions“ und „Quality Record Pressings“ führt zu diesem fantastischen Sound, der diese fantastische High-End-Pressung gegenüber den bislang bekannten abermals zu einer Referenzaufnahme macht. Die Pressung läuft leise und sauber und ´Close To The Edge´ tönt schlicht überragend.
Drei Songs füllen das Vinyl von ´Close To The Edge´ und erschaffen einen ganzen Klangkosmos.
Ein einziger Song füllt die gesamte erste LP und das mit Recht: ´Close To The Edge´ (18:43).
Beginnend mit einer verstörenden Klangcollage aus Wasserrauschen, Vogelrufen, schrägen Gitarrenriffs, grummelndem Bass und hektischem, beckenbetontem Schlagzeug, explodiert der Track in vier Sätzen. Die Band bricht in “I. The Solid Time Of Change” voller Kraft los. Steve Howes Gitarre schneidet rhythmisch durchs Bild, Chris Squire wirbelt mit seinem Rickenbacker durch die Tiefe und Bill Bruford hält alles mit atemberaubender Präzision zusammen. Der Sound ist enorm dicht, aber transparent für jedes Instrument. Die erste große Hook beschert “II. Total Mass Retain”, derweil Chris Squires Bass durch die Wolken donnert. Der emotionale Kern der Komposition folgt mit “III. I Get Up, I Get Down”. Jon Anderson und Steve Howe singen in ätherischer Harmonie und Rick Wakeman zaubert auf einer Kirchenorgel ein klangliches Gebet. Es ist eine mystische Ruhepause, aus der ein monumentaler Minimoog-Sound emporsteigt. Ein Gänsehautmoment, bevor mit “IV. Seasons Of Man” der sinfonische Abschluss beginnt. Frühere Motive kehren zurück, Themen überschlagen sich solange bis der Song mit einer letzten, triumphalen Wendung in sich zusammenfällt. Hymnisch, episch und grenzenlos. Obwohl das Stück in Abschnitte gegliedert ist, wirkt es wie aus einer einzigen schöpferischen Bewegung heraus geboren. Eine Komposition von seltener Kohärenz.
Zwei Songs füllen die gesamte zweite LP: ´And You And I´ (10:12) und ´Siberian Khatru´ (8:56).
Falls ´Close To The Edge´ einen musikalischen Orkan darstellt, dann ist ´And You And I´ der sich anschließende Sonnenaufgang. Zarte Klänge von Steve Howes zwölfsaitiger Gitarre, die wie vorsichtiges Tasten wirken, leiten den Song ein. Dann setzen Bass, Mellotron sowie Orgel ein und der Song gleitet durch vier pastoral-sanfte Teile. Erst ist das Stück in “I. Cord Of Life” ein folkiger Traum, voller offener Akkorde und schwebender Harmonien, dann besitzt es in “II. Eclipse” vielleicht den emotional stärksten Moment. Rick Wakeman malt mit Tönen und Jon Andersons Gesang wirkt wie ein Gebet. Komplexer wird es in “III. The Preacher The Teacher”, aber auch elegant, mit abwechselnden Klangfarben, rhythmischen Verschiebungen und melodischer Tiefe. Schließlich steht noch die “IV. Apocalypse” bevor, ein kurzes, bewegendes Finale.
Doch zum aller letzten Abschluss, zum dritten Song ´Siberian Khatru´ wird nochmal in YES-Manier gerockt. Der härteste Song des Albums beginnt mit einem messerscharfen Gitarrenriff und entfaltet sich zu einem orchestralen Gewitter. Rick Wakeman streut Cembalo ein, Bill Bruford wechselt wie ein Uhrwerk zwischen komplexen Takten und Chris Squire dominiert mit seinem ikonischen Basslauf. Allein Jon Andersons kryptischer Text um Energie und farbenreicher Klangpoesie bleibt ein Rätsel.
´Close To The Edge´ ist ein Monument des Progressive Rock. Es ist experimentell und wagemutig. Jazz, Klassik, Folk und Rock verbinden sich mit spirituellen Ideen zu einem Werk, das auch nach über 50 Jahren lebendig, radikal und geheimnisvoll wirkt. Kein Wunder, dass Generationen von Musikern sich davon inspirieren ließen.
Wer dieses Album hört, steht tatsächlich „am Rand des Abgrunds“ – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Denn ´Close To The Edge´ war mehr als nur ein Albumtitel. Es war der Punkt, an dem für YES alles auf dem Spiel stand – Triumph oder Zerfall. Sie entschieden sich für echte Größe und erschufen ein Werk, das bis heute fasziniert.
Es ist das letzte YES-Album mit Bill Bruford, aber vielleicht auch das erste, bei dem alle Elemente der Band perfekt ineinandergreifen. Roger Deans Artwork, Jon Andersons Visionen, Eddie Offords Produktionstricks, die unfassbare Musikalität aller Beteiligten – alles harmoniert bis ins Detail. Und nach den beiden himmlischen Werken ´The Yes Album´ und ´Fragile´, mit denen YES ihre musikalische Sprache fanden und die Grundmauern des Progressive Rock errichteten, steigen sie mit ´Close To The Edge´ endgültig in himmlische Welten und in die höchsten Sphären des Genres auf. Für viele ist es nicht weniger als der heilige Gral des Progressive Rock.
(Klassiker)
Jon Anderson – Lead- und Hintergrundgesang
Steve Howe – elektrische und akustische Gitarre, Sitar, Hintergrundgesang
Chris Squire – Bassgitarren, Hintergrundgesang
Rick Wakeman – Hammondorgel, Pfeifenorgel, Akustik-/E-Pianos, Cembalo, Mellotron, Minimoog-Synthesizer
Bill Bruford – Schlagzeug
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