
FELIPE SALLES – Camera Obscura
2025 (Tapestry Records) - Stil: Jazz
In einer Zeit, in der wir ständig von perfekten Bildern und durch Algorithmen kuratierten Inhalten umgeben sind, ist es fast schon mutig, sich etwas Unsichtbarem zuzuwenden. Felipe Salles macht genau das mit seinem Album ´Camera Obscura´. Der brasilianisch-amerikanische Saxophonist und Komponist bietet hier eine erfrischende musikalische Antwort auf die Überflutung mit digitalen Bildern, denn in seinem Werk dreht sich alles um Schatten, Reflexion und die stille Kraft der Musik.
Der Titel ´Camera Obscura´ ist das Konzept, durch das wir das ganze Album betrachten. Die „dunkle Kammer“ ist eine der ältesten Methoden der Fotografie, in der Licht in einen geschlossenen Raum fällt und Bilder erzeugt. Felipe Salles verwandelt dieses Prinzip in Musik, indem er Schatten in Klänge, Erinnerungen in Struktur und Wahrnehmung in Melodien verwandelt. ´Camera Obscura´ ist eine musikalische Reise, die sich langsam entfaltet und mit viel Geduld und Offenheit für Neues genossen werden möchte.
Besonders erwähnenswert ist dabei die Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Quartett, das hervorragende Musiker umfasst wie Nando Michelin am Klavier, Keala Kaumeheiwa am Bass und Steve Langone am Schlagzeug. Diese Gruppe wird auf dem Album von dem Cushman String Quartet verstärkt. Die Streicher liefern nicht nur farbenfrohe Klänge, sondern sind auch essenziell für die Struktur des Werkes. Felipe Salles’ Musik ist allerdings mehr als Jazz, sondern enthält ebenso Jazzimprovisation, südamerikanische Rhythmen und das Gefühl von europäischer Kammermusik.
Schon das erste Stück, das selbst ´Camera Obscura´ heißt, setzt den Ton für den Rest des Albums. Nando Michelin lässt zarte Akkorde über die Klaviertasten schweben, während Felipe Salles’ Saxophon mit einer sanften Melodie wandert. Nach und nach kommen Bass, Schlagzeug und Streicher ins Spiel. Das Bild wird klarer, behält aber trotzdem etwas von der mysteriösen Aura bei. Hier ist die Musik wie eine Reise durch Erinnerungen und innere Welten, nachdenklich und experimentell.
Einen emotionalen Höhepunkt stellt ´À Deriva´ dar, mit einem Text von Salles’ Schwester Helena Tabatchnik und dem Gesang der brasilianischen Sängerin Tatiana Parra. Letztere singt so intim, als würde sie ein Geheimnis ins Ohr flüstern.
Mit seinen zehn Tracks ist ´Camera Obscura´ insgesamt clever aufgebaut. Unter diesen befinden sich auch vier kürzere Stücke, die wie kleine Pausen im Gesamtwerk funktionieren und an eine klassische Suite erinnern. Diese agieren wie innere Gespräche des Albums und hinterlassen Fragen zu schwierigen Themen wie etwa Demenz. Die Streicher erzeugen kratzende, seufzende und schwebende Klänge und schaffen so einen Raum, der Unsicherheit und Zerfall spürbar macht, ohne in Dramatik zu verfallen.
Das letzte Stück, ´Trem De Prata´, erzählt von einer nostalgischen Reise im luxuriösen Zug zwischen São Paulo und Rio de Janeiro. Steve Langones perkussive Spielweise ahmt das Rattern der Räder nach, während Nando Michelin und Felipe Salles die vorbeiziehenden Landschaften Brasiliens musikalisch zeichnen. Es ist ein passender Abschluss für ein Album, das an sich wie eine Zugfahrt wirkt, samt verschiedenen Stationen, Übergängen und einem Gefühl des Ankommens.
´Camera Obscura´ ist ein Werk voll emotionaler Tiefe. In der Dunkelkammer des Klangs kreiert Felipe Salles ein Licht der Hoffnung. Die Kompositionen sind wie Schattenbilder einer tieferen Wahrheit, sie sind manchmal flüchtig, manchmal mehrdeutig, aber wunderschön.
(8,5 Punkte)