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MARILLION – An Hour Before It’s Dark

~ 2022 (earMUSIC/Edel) – Stil: Artrock ~


Wir haben fünf Minuten vor zwölf, nicht nur bei der seit Jahren täglich zur Predigt vorgelegten Klimakrise. Vielleicht ist es auch schon nach zwölf. Schaut in den Himmel, beobachtet das Wasser.

Die Briten MARILLION wähnen uns allerdings erst in der Blauen Stunde, in der die Dunkelheit der Nacht noch nicht eingetroffen ist. Es ist die Stunde, in der unsere Sonne so weit unter dem Horizont steht, dass sich noch ein blaues Lichtspektrum am Himmel ausbreitet. Vielleicht sind auch die erwarteten dunklen Stunden im Anschluss gar nicht so schlimm, die Nachtigall singt schließlich in der dunkelsten Stunde immer am lieblichsten, sagt man.

Die Männer aus Großbritannien reden allerdings genau genommen einfach nur von der Stunde des Tages bevor es dunkel wird und nutzen die Redensart ´An Hour Before It’s Dark´ als Albumtitel für ihr 20. Studioalbum.

Es ist die letzte Stunde, in der Kinder im Freien spielen dürfen, sofern sie nicht im kleinen Kämmerchen vor ihrem Computer sitzen oder ihr strahlendes Smartphone in ihren Fingern krampfhaft bearbeiten. Somit bemerken diese Heranwachsenden auch nicht, wie sich die Welt um sie herum in diesen letzten Minuten verändert. Gehorsam und erfahren wie allerdings Erwachsene sind, haben diese stattdessen solche Aufgaben an die fähigsten Menschen ihres Landes übergeben. Manche sind dabei so dermaßen ideologisch überqualifiziert, dass derzeit tatsächlich die letzte Stunde anbricht bevor das Licht ausgeht.

Bevor jedoch der erwartete Blackout eintritt, konnten MARILLION noch mit den letzten Stromreserven in Peter Gabriels „Real World Studios“ ihre neueste einstündige Songsammlung mit sieben Kompositionen aufnehmen. ´An Hour Before It’s Dark´ führt dabei die Errungenschaften, die MARILLION mit ´Sounds That Can’t Be Made´ und ´F E A R (F*** Everyone And Run)´ erreicht haben, auf die nächste Stufe. Sie verknüpfen die konzeptionelle Stärke von ´Brave´ und ´Marbles´ hier und da mit Sentimentalitäten aus den Tagen von ´Seasons End´ und ´Holidays In Eden´, um ein weiteres Meisterwerk generieren zu können.

 

 

Steve Hogarth, Steve Rothery, Pete Trewavas, Mark Kelly und Ian Mosley sorgen sich bereits im ersten, neunminütigen Epos ´Be Hard On Yourself´ um den „big ball of rocks and water, spinning round in space“ und würden am liebsten mit einem Knopfdruck alles in die Luft jagen. Nebenbei kreiden sie dem dressierten Affen seine Geilheit nach dem Mehr an, nach noch mehr Luxus, nach noch mehr Spielzeug. Dabei wurden die Affen, mit denen echte Affen nichts zu tun haben wollen, doch von denen, die es wieder abschaffen wollen, so erzogen. Mit einem zusätzlichen, kleinen Chor zu Beginn und dem Klavier sind MARILLION schnell am Ziel ihres Anliegens, „Be hard on yourself“ zu singen. Die Musik strebt immer höher, während ein Zwischenabschnitt der Luxus-Affen-Stimmung angemessen dunkel aufspielt, ehe der Song nochmals zur Größe zurückstrebt. MARILLION setzen ihre Predigt der abgelaufenen Zeit fort. Dennoch drücken sie sich vor einer direkten Aussage: „We haven’t got long … to the end of the song.“ Steve Hogarth spricht letztlich lieber in Bildern: „Paint a picture, sing a song, plant some flowers in the park. Get out and make it better. You’ve got an hour before it’s dark…“

Kinder spielen unterdessen im Freien. Eine wunderbare Melodie zeigt sich dabei öfters als aufstrebende Schönheit. MARILLION sagen im zweiten, siebenminütigen Epic ´Reprogram The Gen´, dass sie die Zukunft gesehen haben. Zumindest bleibt ein auf der Straße spielender Junge ein Junge und ein Mädchen ein Mädchen, auch wenn die Umprogrammierung läuft. MARILLION erhoffen sich indes eine Heilung für die Menschheit, haben aber Angst vor „Dr Frankenstein“ und hören „Greta T“ zu. Wenigstens haben wir als Menschheit das bekommen, was wir verdienen. Die Feststellung lautet: it „begins with a letter C“; und die Antwort auf alles: „the cure is the disease.“ Auch hier schleicht sich ein ruhiger Zwischenabschnitt ein. Und so sprechen alle von der großen Heilung, denn die neue Glaubensgemeinschaft lässt alle zusammen beim Abschluss singen: „Let’s all be friends of the earth.“

Das Horrorszenario malen MARILLION dann im schwelgerischen, aber musikalisch auf den Kern zielgerichteten ´Murder Machines´ an die Wand. Ein Virusträger umarmt seinen liebsten Mitmenschen und bringt ihn dadurch um. Genüsslich und gewohnt in aller Melancholie von Steve Hogarth gesungen: „I put my arms around her. And I killed her with love.“ Immerhin geschieht es in wahrer Liebe, derweil sich Sci-Fi-Filme in ihrer Prophezeiung einer Labor-Pandemie bestätigen: „Tested positive! No antibodies! No vaccine! No escape!“

 

 

Die quälenden Gedanken eines Mannes, der in den Müllbergen der Metropole, neben Freetown, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Sierra Leone, einen Diamanten gefunden hat, im Sand sitzt und seinen Träumen nachhängt, aber der Versuchung widerstehen will, den Diamanten zu verkaufen, sind unterdessen mit ´Sierra Leone´ betitelt und überdauern elf warme Minuten. Die Melodie ist somit weniger quälend, sondern bewegt sich mit dem Klavier gelöster und leichter, immer der Sonne himmelwärts entgegen und durch den Diamanten die gelben Strahlen am Himmel betrachtend: „This is more than treasure. This was sent to me from God.“

Lebenserhaltende Maßnahmen werden zumindest im fünfzehnminütigen und finalen ´Care´ ergriffen, obwohl niemand deren Dauer und Nutzen kennt. Eine Stunde bevor es wieder einmal dunkel wird, scheint jedoch allen die echte Liebe einleuchtend, und dass „The angels in this world are not in the walls of churches“, so sagt es zumindest ein singender Steve Hogarth. Doch die Glückseligkeit wächst und die Geschichte nimmt entsprechend zur wandelbaren, elegischen Musik weitere Wendungen: „Whether you like it or not. When it’s gone, it’s gonna take you with it.“ Zum großen Heimgang liegen sich sogleich wieder alle in den Armen. Die bedeutsamen Momente und Orte des Lebens tauchen nochmals vor dem geistigen Auge auf, alldieweil ein Engel – „to carry me home“ – erscheint, eine Stunde bevor es dunkel wird. Und ich schau auf die Uhr: fünf Minuten vor zwölf.

(9 Punkte)

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Pic: Anne-Marie Forker
(VÖ: 4.03.2022)