~ 2021 (Pelagic Records) – Stil: Shoegaze / Post-Rock ~
Wenn eine Band, die man gefühlt schon ewig kennt, ihren 20. Geburtstag feiert, dann löst das doch eine gewisse innere Unruhe aus. Wie schnell die Zeit vergeht, was alles passiert ist, wie sich Musikstile verändern – oder eben auch nicht. Im Falle der Südwestfranzosen YEAR OF NO LIGHT, oder kurz YONL, ist es dieses Jahr so weit, und das feiert ihr Label „Pelagic Records“ sowohl mit einem edlen Holz-Boxset der Gesamtdiskographie, das passenderweise ´Mnemophobia´ (= die übermäßige Angst vor Erinnerungen) genannt wurde; als auch mit ´Consolamentum´, dem ersten Album seit acht Jahren.
Rechnet man den Score zu C.T. Dreyer‘s 1932er Film ´Vampyr – Der Traum des Allan Gray´ dazu, ist es YONLs fünfte Langspielplatte, der jedoch zahlreiche Splits sowie ein Roadburn-Livealbum zur Seite stehen, weitere Filmvertonungen und Kunstkooperationen gibt es ebenfalls. Beim digitalen ´Roadburn Redux´ im April diesen Jahres wurde folgerichtig auch die erste Singleauskopplung von ´Consolamentum´ vorgestellt, ´Realgar´. Das Video, das die Filmliebhaber dazu drehen ließen, zeigt eindrücklich den Widerstreit zwischen erinnern und vergessen wollen, und gibt für den Neuling einen ersten Einblick in YONLs ganz spezielle Welt; ihr findet es am Ende des Reviews.
Spätestens jetzt sollte für alle Neulinge erwähnt werden, dass YEAR OF NO LIGHT seit dem Weggang von Sänger Julien Perez 2009 eine rein instrumentale Band sind, deren wuchtig-hypnotischer und gleichzeitig filigraner Soundeindruck daraus resultiert, dass zwei Schlagzeuger die groovende Basis für Keyboards, Bass und drei Gitarren legen – das introvertierte Sextett live zu erleben ist daher ein absoluter Genuss, den man als Fan von schwer und langsam ausgewalztem Metall mit viel Gefühl für Melodien unbedingt einmal erlebt haben sollte.
Damit der dadurch festgesteckte stilistische Rahmen die Kreativität nicht begrenzt, braucht es jedoch immer mal wieder neue Feinjustierungen, und wie YONL das diesmal geschafft haben, wollen wir uns einmal genauer anschauen. ´Objuration´, der Eid, öffnet die Tür so, wie man es von ihnen gewohnt ist: über einen schleppenden, düster-wabernden Soundteppich nähern wir uns der Geisttaufe durch Handauflegen, dem ´Consolamentum´, dem wichtigsten Ritus der Katharer, durch das allein der Gläubige als vom heiligen Geist erfüllter „Reiner“ aus der irdisch-materielle, bösen Welt Satans in die jenseitige, gottgeschaffene geistige Welt überwechseln kann. Die Katharer oder Albigenser waren die größte Ketzerfraktion des Mittelalters und galten, ganz entgegen ihrer eigenen Sicht, als „Kirchenspalter, Dualisten, Frauenfreunde und Teufelsdiener“, die sich pescetarisch ernährten, gerne Katzen, also Luzifer, obszön den Po küssten und Frauen unschicklicherweise kirchliche Ämter bekleiden ließen. Eine doch recht sympathische Sekte, sollte man meinen, der jedoch durch einen eigenen Kreuzzug und die Inquisition bis 1400 der Garaus gemacht wurde.
Dieses dunkle Mittelalter gibt ´Objuration´ nachvollziehbar wieder, macht jedoch gleichzeitig nicht unbedingt Lust auf mehr von diesem runterziehenden Stoff. Umso erfreulicher, dass sich gegen Ende des Stücks der Weihrauchnebel etwas lichtet, und endlich die Trommeln rufen, sich zu erheben aus dem Schlamm der Niederungen, und nach Höherem zu streben.
Was mit ´Alétheia´, der Göttin der Wahrheit, umgehend erreicht wird – eine sehr strahlende, durchgehend positive Stimmung, ungewöhnlich für YONL, baut in einem sehr langen Bogen und mit diversen Unterbrechungen, durch vielstimmige Variation der Melodie eine sinnlich erfahrbare Spannung auf, die wie üblich in einem von vibrierenden Gitarrentremolos begleiteten Trommelfeuerwerk kulminiert und explodiert – atemberaubend schön und gleichzeitig beängstigend, ein Post Rock-Lehrstück und mein Hit des Albums, und dabei der einzige Song unter zehn Minuten. Was soll danach noch kommen?
Wir finden uns zurück im Schlamm der Erinnerungen, doch Vorsicht, nun zeigt sich die wahre Meisterschaft. Wie im Zeitraffer spielen wir im zentralen der fünf Stücke Evolution nach, und setzen den Höhenflug fort, der zumindest für mich das zweite Album ´Ausserwelt´ war. Pulsierend schrauben sich sakrale Tonfolgen in gotische Kathedralen hinauf, um wiederum in einer Klimax zu verbrennend. Noch mehr als zuvor wird spürbar, was es ausmacht, ein Album komplett live einzuspielen, mit allen Musikern in einem Raum. Die dort und daraus entstehende Energie hat etwas Heiliges, das ´Interdit Aux Vivants, Aux Morts, Et Aux Chiens“ ist. Das wahrhaftige Sakrament von YEAR OF NO LIGHT, ein Glaubensbekenntnis an das Nichts, welches gleichzeitig auf Erlösung hofft.
So geht es auch den verschiedenen Protagonisten, die in ´Réalgar´ mit ihren inneren Dämonen der Erinnerung zu kämpfen haben. Die typischen Gitarrenbasierten. Breitwandklänge begleiten sie in diesem Kurzfilm, der die Untiefen der menschlichen Seele zu beleuchten versucht. Und ein wenig Hoffnung übrig lässt, die auch vom abschließenden, keyboardbasierten ´Came´ nicht gebrochen wird. Auch hier zieht gegen Ende das Tempo wieder extrem an, reißt uns mit in einen Strudel, eine rasende Knochenmühle, die keine Gegenwehr zulässt, und wo es irgendwann egal ist, ob wir in Himmel oder Hölle ausgespuckt werden. Und das bleibt schließlich auch offen, gewollt unabgeschlossen.
Fast zwingt dieser Kunstgriff dazu, wieder von vorne zu beginnen, um besser zu begreifen, um was es hier tatsächlich ging – ums Fallen, oder um das Wiederaufstehen? Sie machen es uns nicht einfach, diese sechs Typen aus Bordeaux; aber sich selbst auch nicht. Und sind wohl auch nach zwei Dekaden noch immer auf der Suche:
“It’s more a matter of sonic devotion. Music against modern times. Year Of No Light is above all a praxis. We wanted intensity, trance, climax and threat, all of them embedded in a bipolar and mournful ethos”.
Sie sind Suchende, Pilger ihrer eigenen Religion. ´Consolamentum´, der Trost, war noch nicht die endgültige Katharsis, möglicherweise die Stufe kurz davor, Das nächste Album wird es zeigen…
(7,75 Punkte)
https://yearofnolight.bandcamp.com/
https://www.facebook.com/yearofnolight
https://www.youtube.com/c/YearOfNoLight
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