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BOB MARLEY AND THE WAILERS – Kaya

~ 1978 (Island Records) – Stil: Reggae ~


Zeit des Verzichts. Zeit des Aufbruchs. Das Warten auf die Auferweckung. So lebt es sich seit 40 Tagen und Nächten, eigentlich seit weit über einem Jahr. Jeder Tag scheint wie der andere. Kein Unterschied mehr zwischen gestern und heute erkennbar. Zu den Höhepunkten des Lebens gehört natürlich weiterhin die tägliche Lieferung des Gelben Boten. Doch allein der Besuch meiner geliebten Kaia setzt dem Leben seine Glanzpunkte.

Derweil ich sehnsüchtig auf ihren Besuch warte, schaue ich den Pilzen beim Wachsen zu, beobachte meine kleinen Zuchtexperimente in ihrem heutigen Entwicklungsstadium. Zufrieden gehe ich in die Wohnstube des Baumhauses zurück und überlege dabei, welche Scheibe ich als Nächstes auflegen könnte. Die Wahl fällt beim Blättern durch die Vinyl-Sammlung auf ein, für die Stimmung hilfreiches Werk: Bob Marleys ´Kaya´.

 

 

Mitte der Siebzigerjahre gerieten die politischen Fronten auf Jamaika außer Kontrolle. Da sich Bob Marley angeblich auf die Seite von Premier Michael Manley schlug, entging er am 3. Dezember 1976 nur knapp einem letztlich nie ganz aufgeklärten Attentat und verließ bis auf Weiteres Jamaika. Erst 1978 sollte er für das Festival „One Love Peace Concert“ zurückkehren, bei dem er es schaffte, dass sich beide politischen Rivalen auf der Bühne die Hand gaben. Während seiner Tage im Exil in England nahm er die Alben ´Exodus´ und ´Kaya´ auf.

Im Gegensatz zum 1977 veröffentlichten Werk ´Exodus´, das noch die politische Veränderung propagandierte, und dies neben Religion und Liebe in den Vordergrund stellte, wurde Bob Marley auf dem zehnten Studioalbum zugänglicher. Sein Reflektieren im politischen Sinne und in dem der Rastafari-Bewegung, er war jahrelang Anhänger dieser religiösen und sozialen Bestrebungen, rückte in den Hintergrund. Somit fehlte diesem Werk die aufwühlende Stimmung der WAILERS.

´Exodus´ und ´Kaya´ sind ein echtes Traumgespann. Eignet sich das eine Werk für die Politdiskussion, ist das andere eher für die Chill-Out-Stunden angedacht.

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Heute favorisiere ich eher letztere Variante des Zeitvertreibs. Ich halte das LP-Cover in der Hand. ´Kaya´ erschien 2020 im „Half Speed Mastering“ auf schwerem, schwarzem Vinyl, ohne Download. Um nicht nur das musikalische Erbe auszuschlachten, sondern auch Bob Marleys Image als Kiffer, verkauft sogar seine Familie auf dem legalisierten Cannabis-Markt in den USA eine Sorte namens „Marley Natural“. Aber auch Kaffee („Mystic Morning“), Kerzen („Positive Vibrations“) und Kopfhörer („House of Marley“) profitieren noch 40 Jahre nach seinem Tod von seinem Namen.

Ich betrachte auf der Cover-Rückseite, neben dem Mitlesen der Lyrics, den Mega-Spliff, nehme selber einen kräftigen Zug und blase den weißen Rauch in die Luft. So lässt es sich leben. „Got to have Kaya now. Got to have Kaya now. For the rain is falling. I’m so high. I even touch the sky.“

Es ist wirklich an der Zeit, dass mich Kaia wieder besuchen kommt. Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor, obwohl sie erst kürzlich hier bei mir die Nacht verbracht hat. Zur Zerstreuung und zum Vergnügen lege ich ´Kaya´ gleich nochmal auf.

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Bob Marleys Lieblingsalbum zeigt die eingängige, die träumerische und harmonischere, die entspannte und liebevolle Seite von ihm. Gerade in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre wurde er mehr und mehr zum wichtigsten Botschafter seiner Musik. Seit Eric Clapton anno 1974 Bob Marleys ´I Shot The Sheriff´ in die Welt hinaustrug, bildete Reggae den Grundstock neuer Rock- und Popmusik, der erstmals in den Hits der BOOMTOWN RATS (´Banana Republic´), von BLONDIE (´The Tide Is High´) oder PAUL SIMON (´Mother And Child Reunion´), aber auch bei THE POLICE, THE CLASH, LED ZEPPELIN (´D’yer Mak’er´) oder gar JUDAS PRIEST (´The Rage´) abzulesen war.

Auch wenn sich auf ´Kaya´ lyrisch einige Banalitäten einschlichen, befand sich Bob Marley bei den Kompositionen, die zeitgleich mit denen des mächtigeren ´Exodus´ aufgenommen wurden, auf dem künstlerischen Höhepunkt. Alles drehte sich diesmal um die Liebe und natürlich Marihuana. Allein die Tatsache, dass der Titelsong ´Kaya´, ´Sun Is Shining´ sowie ´Satisfy My Soul´ (vormals ´Don’t Rock My Boat´) vom 1971er Werk ´Soul Revolution´ grundsätzlich bekannt waren, musste in Kauf genommen werden.

Ohne die politische Kampfkraft des Rasta-Mannes wächst ´Kaya´ zu einem entspannten Album, nicht nur für Kiffer­ und Turteltäubchen heran. Herauszuheben sind bei dieser dennoch durchgehend erstklassigen Scheibe, die in gewissen Kreisen sogar als großer Klassiker angesehen wird, ´Is This Love´ sowie ´Sun Is Shining´ und ´She´s Gone´. Carlton und Aston Barrett bilden die satte Rhythmus-Sektion, und auch die dezenten Keyboards von Tyrone Downie fügen sich ebenso gut ins Bild wie der Gesang des Hintergrundgesangstrios I THREES, das seit ´Natty Dread´ im Jahre 1974 dabei ist. ´Satisfy My Soul´ ist natürlich ebenfalls klassischer Stoff und die Hymne zum Rauchen heißt schlichtweg ´Easy Skanking´.

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Die Nebelwolke in der Wohnstube ist mittlerweile allzu mächtig geworden, so dass ich beschließe, etwas zu lüften. Mit wedelnder Hand vor dem Gesicht bahne ich mir den Weg nach draußen, öffne die Tür und trete auf die Holzplanke. Der mächtige Zug Frischluft, den ich mir kräftig inhalierend gönne, vernebelt urplötzlich meine Sinne so sehr, dass ich auf der Planke erst leicht nach vorne wanke, um schließlich seitwärts in das Gestrüpp vor dem Baumhaus nach unten zu fallen.

Als ich wieder zu Sinnen komme, noch immer leicht benebelt, ist es bereits dunkel geworden. Verschwommen schaue ich in den Abendhimmel und spüre ein gewisses Frösteln. Irgendwie fühle ich mich nackt. Meine Hände fahren an meinem Körper entlang, stellen tatsächlich fest, dass ich fast vollständig entblättert im Grünen liege, und begegnen plötzlich einem Haarschopf, der sich über mich gebeugt hat, um meine einsetzende Erregung auszukosten. Willenlos gebe ich mich der Verführung hin. Die Minuten vergehen, es können auch Stunden sein, in denen ich die Liebkosungen genieße, die die Sterne am Firmament funkeln lassen.

Irgendwann bahnt sich der Kopf schließlich seinen Weg zu meinem nach oben. In dem Moment, in dem er vor meinem Gesicht angekommen ist, öffne ich zur Begrüßung erst den Mund, tausche minutenlang Körperflüssigkeiten aus, ehe ich langsam die Augen öffne. Nach und nach gewöhnen sich diese an die Dunkelheit und die Umgebung. Blinzelnd, die Augen fokussierend, erkenne ich plötzlich in dem Gesicht vor mir das Antlitz meiner Nachbarin und schreie erschrocken: „Julie??!!“