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DREAM THEATER – Distance Over Time

~ 2019 (Inside Out/Sony) – Stil: Progressive Metal ~


DREAM THEATER sind sicher eine der Bands, die seit ihrem Bestehen die Musikwelt nachweislich beeinflusst haben. Nicht alles was sie veröffentlichten war wegweisend, aber einige der bisher produzierten dreizehn Alben sind Kulturgut. Auf ihrem vierzehnten Album müssen die New Yorker nun den weniger überzeugenden Vorgänger  `The Astonishing` vergessen lassen. Und das schaffen sie auf Anhieb.

Nach den ersten Durchgängen von `Distance Over Time` ist klar, an wen oder was dieses Album erinnert: `Awake` von 1994. Für mich das Album, das ich hier am meisten heraushöre. Produktion, Songaufbau, alles hat diesen ´Awake´-Spirit. Die Kombination aus harten Riffs, soliden Grooves und keinen unnötigen Prog-Ausflügen, wird schon in den beiden Songs `Untethered Angel` sowie `Paralyzed`  überdeutlich. Gerade die Gitarren stehen hier mit ihrer ruppigen, rohen Spielweise im Mittelpunkt und setzen die Akzente für das Drumherum. Dass LaBrie hier mit seiner melodischen Gesangsweise der Gegenpol ist, macht die Kompositionen noch spannender. Aber auch die typischen DREAM THEATER-Trademarks, in Form verproggter Melancholie, finden sich in den ruhigen Passagen der Stücke. An diesen Stellen läuft die Band zu Topform auf und die Erinnerungen an alte Großtaten poppen beim Hörer auf. Brillant auch `Fall Into The Light`, mit METALLICA-lastigen Gitarren eines der Album-Highlights. Was rabiat beginnt, geht im weiteren Verlauf über in eine wunderbare Hommage an alte DT-Zeiten.

Die Band hat aus ihren Fehlern der letzten Alben gelernt und konzentriert sich auf ihre bekannten Stärken. Hervorzuheben sind auch wieder die deutlich markanteren harmonischen Refrains, die ebenfalls Erinnerungen auf die frühen Alben aufwerfen. Dass es auf dem Album nicht nur Highlights gibt, ist selbstredend. Man rutscht hier und da auch auf Mittelmäßigkeit zurück, allerdings sehr selten. Einer dieser Tracks ist das albumschließende `Viper King`, das recht banal mit einer hardrockigen Note nicht wirklich beeindrucken kann. Da bleibt die Band weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Einzig der Keyboard-Part in der Songmitte lässt aufhorchen. Was einen auch nicht wirklich mitnimmt, ist das eher banale `Out Of Reach`, was man gut als Halbballade durchgehen lassen kann.  Dafür rasiert einem dann `Pale Blue Dot` mit Stakkato-ähnlichen Rhythmen den Oberlippenbart sauber weg.

`Distance Over Time` ist eine positive Überraschung, gerade weil man kein neues Benchmark-Album abliefert, sondern sich auf altbewährtes beruft – und dies mit voller Leidenschaft.  Endlich mal wieder ein DREAM THEATER-Album, das sich am Ende des Jahres in den Jahresbesten-Listen wiederfindet. Zumindest in meiner. Dass es das Album in diversen Editionen gibt, macht es dem Fan nicht leichter, sich zu entscheiden, welche Version er sich zulegt. Für mich war die Musik das Wichtigste und nicht irgendwelche Gimmicks. Also wurde eine Vinyl-Variante gekauft, die auch eine schlichte CD des Albums mit beinhaltet.

(8,5 Punkte)

Jürgen Tschamler

 

 

Bereits der Einstieg des neuesten DREAM THEATER-Werkes erweckt bei allen Zuhörern die Illusion von seligen ´Images And Words´-Zeiten. Unverhohlen melodische und eindeutige Tonfolgen werden von einem kraftvollen Rhythmus-Feuerwerk flankiert. ´Distance Over Time´ ist für DREAM THEATER schlichtweg ein Roots-Album geworden. Ohne großes Brimborium ist es kein Schauplatz für die der musikalischen Stilistik gerne zugeschriebenen Selbstdarstellung. Überraschenderweise steht diese so spärlich wie selten zuvor im Vordergrund. Manchmal ist weniger einfach mehr. Denn nach noch nicht einmal 60 Minuten haben DREAM THEATER alles gesagt, es benötigt desgleichen keinen zehnminütigen Longtrack zur eigenen Beweihräucherung. Dies hat es seit fast 30 Jahren nicht gegeben. Die stringente Melodieführung aus frühen Zeiten annehmend, werden zwar 2019 keine Monumentalwerke jener Zeiten erschaffen, aber ein Werk, das mehr als pure Unterhaltung ist.

Derweil der letzte Bandklassiker ´Metropolis Pt. 2: Scenes From A Memory´ in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum feiert, präsentieren DREAM THEATER aktuell zumeist im zwei-jährigen Rhythmus ihrer immer kritischer werdenden Anhängerschaft ein neues Werk auf das nächste. Um sich gegenüber dem für viele Ohren schwer verdaulichen Vorgänger ´The Astonishing´ abzuheben, zog sich die Prog Metal-Legende, ganz wie zu Beginn der Karriere, für 18 Tage gemeinsam aus der Öffentlichkeit zurück und nahm es dann in Monticello, New York, auf. Derselbe kurze Kompositionsprozess spielte dem 2003er Werk ´Train Of Thought´ keine guten Karten in die Hände, viel zu offensichtlich erschienen die musikalischen Vorbilder der stilistischen Ausrichtung. 2019 können nur böse Zungen das Songmaterial schlecht reden.

´Untethered Angel´ ist der das Album prägende, melodisch gesungene Eröffnungssong, in dem sich allerdings Gitarre als auch Keyboard einige solistische Ausflüge bewahren. Ein dunkler, interessanter Grundrhythmus weckt zum Drei-Worte-Refrain-Song ´Paralyzed´ erste Erinnerungen an ´Awake´. Dennoch öffnet sich der Song wie ´At Wit’s End´ äußerst luftig. Ausgesuchte Ur-Einflüsse schauen in ´Fall Into The Light´ hervor. Ein Mehr an Keyboards und ein NWoBHM-Riff, das sich schon METALLICA geklaut haben und dessen Ausarbeitung insbesondere im Solo zu bewundern ist, suggeriert eine schlichtere, aber gleichwohl effektive Darbietung. Jordan Rudess schielt in seinen Eskapaden eher Richtung Jon Lord als zu Kevin Moore. Diese Momente belegen längst erste Ansätze wie sich ein Spätwerk von DREAM THEATER gestalten kann. Erst recht schwingen im aufputschenden Bonussong ´Viper King´, von Angesicht zu Angesicht mit SHADOW GALLERY und MAGELLAN, die Classic Rock-Nuancen von DEEP PURPLE mit.

Für ein echtes Alterswerk sind DREAM THEATER beileibe zu jung. Das wundervolle ´Barstool Warrior´ schenkt ebenso gleich ´S2N´ erneut Tropfen des Jungbrunnens aus und ergreift, vom Melodic Rock ausgehend, progressive Wendungen, geradezu IQ-verdächtig. James LaBrie singt sogar in längerer Abfolge in hohen Lagen. Selbst die balladeske Stimmung eines ´Out Of Reach´ steigert sich im Aufbau und in ihrer sich entwickelnden Atmosphäre. Dagegen ist ´Room 137´ weit dramatischer und düsterer als der Rest, enthält die ersten Lyrics von Schlagzeuger Mike Mangini und einen verfremdeten Gesang BEATLES´ker Art und Weise. Somit entstehen hier vielmehr Parallelen zur ´Falling Into Infinity´-Ära. Der reguläre Abschluss-Reigen ´Pale Blue Dot´ schießt nochmals die Rhythmus-Böller ab und entwickelt sich zum hervorstechenden Höhepunkt.

Allen Gerüchten und allem Gerede zum Trotze kredenzen DREAM THEATER mit ´Distance Over Time´ ein ganz ausgezeichnetes Werk. Besonders in diesen Zeiten sollte daher weitaus mehr dem eigenen Urteilsvermögen vertraut werden. (Oder Ihr richtet einfach, wie in diesem Moment geschehen, weiter Euer musikalisches Augenmerk auf diese Gelben Seiten.) Sofern DREAM THEATER ihre neue Energie weiter fokussieren können und in bahnbrechende Ideen umsetzen sollten, darf in der Zukunft gar nochmal mit einem weiteren Meilenstein gerechnet werden.

(8,5 Punkte)

Michael Haifl

 

 

Vergebt mir, ich bin ein Wurm. Arrogant dachte ich, das musikalische Wissen der letzten 35 Jahre mit Löffeln gefressen zu haben und verachtete dieses Album beim Erstkontakt. Wie ‚Images & Words‘ damals. Und ‚Empire‘ von QUEENSRYCHE. Ich hätte es besser wissen müssen, nach den beiden genannten Beispielen. Gut in solchen Situationen ist, wenn man weiß, wie seine Kollegen ticken und man deren Ansicht schätzt.

Nach einer kleinen, internen Unterredung habe ich mir folglich einen neuen Hördurchgang aus freien Stücken auferlegt. Auch wenn man allseits überflutet wird, mit starken Outputs, die beim ersten Durchgang schon mitreißen, sollte man auch alten Heroen und Topsellern eine zweite Chance geben, bevor das Gebashe draußen losgeht, das wir hier weder praktizieren noch nötig haben. Kommt nicht wieder vor. Versprochen.

‚Untethered Angel‘ ist echt eine der schönsten DREAM THEATER-Nummern der Neuzeit. Wieso habe ich diese herrlichen Gesangslinien als auch die in den Strophen von ‚Paralysed‘ das erste Mal nicht gehört? Wie konnte ich diesen epischen, unaufdringlichen Instrumentalpart vom Heavy-Smasher ‚Fall Into The Light‘ nicht würdigen? Wieso hat mich eines der historisch-klassisch-gefühlvollsten Piano & Gitarrensolos des ‚Barstool Warriors‘ nicht sofort verzaubert? (Weil dich die eine Sekunde in der Refrain-Melodie, die nach Mike Tramp zu WHITE LION-Zeiten tönt, verzaubert hat – Anm. MH.) Habe ich mich durch das breite Unverständnis der Masse gegenüber dem Vorgänger trotzig der Aktuellen verschlossen? Wollte ich gar hassen? Sperrt mich zum Nachdenken in ‚Room 137‘ ein, um düstere Gedanken mit düsteren BEATLES-Geistern auszutreiben – ja AYREON stehen auch auf sowas und ich auf AYREON. Und DREAM THEATER. Seit 30 Jahren. Mal mehr, mal weniger. ‚S2N‘ erinnert mich an das „weniger“ mit allem, was an Frickeleien zu bewerkstelligen ist, aber ebenfalls an das „mehr“ mit klasse Melodien und fucking kickendem Groove am Ende. (Die Melodie erinnert mich an RUSH Mitte der Neunziger – Anm. MH.) ‚At Wit’s End‘ hat auch alles, was ich früher liebte, irgendwann zu viel wurde, mittlerweile aber gerne mal wieder reinknallen darf – in eben dieser Dynamik zwischen hart und zart.

„Don’t leave me now“ – keine Angst, James – ich verlasse euch auch diesmal nicht. Wem ‚Out Of Reach‘ schön geschmeidig reinläuft, sollte der ‚Astonishing‘ auch noch mal eine Chance geben – am Besten in ein-vinylseitigen Etappen. Die nächste Abrissbirne ist nicht weit und heißt ‚Pale Blue Dot‘, ein rhythmisch zuckendes Sozialkritikstatement, das die Welt gerade jetzt braucht. Dauerfeuer aus der Instrumentalkanone – analog zu den täglichen Horrornews der Tagesschau mit James als versöhnlichem Sprecher. Taugt auch für den nächsten richtig guten TIM BURTON-Film. Und selbst die DEEP PURPLE-Hommage ‚Viper King‘ macht mir heute Laune, also tanzt, ihr Devotchkas!

Warum also das viele Gelaber am Anfang? Weil ich mir sicher bin, dass viele Undergroundler aus Prinzip dieses Werk so angehen werden wie ich ursprünglich und das haben DREAM THEATER nicht verdient. Ich bin zur Stunde einer eigenen Punktevergabe nicht würdig und schließe mich den Bewertungen meiner Kollegen demütig an…jedoch keinen Beckenschlag darunter.

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