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JULIA HOLTER – Aviary

~ 2018 (Domino/Gootogo) – Stil: Avantgarde Pop ~


Wer sich mit Geist und Seele dem Kunstwerk von Julia Holter nähert, bemüht entweder seinen Verstand und Intellekt, um den Querverweisen zu Dichtung und althergebrachten Fertigkeiten zu folgen, oder öffnet sein Bewusstsein, gibt sich den aufbrausenden Emotionen hin, der Kakophonie des Geistes.

Die sinfonische Disharmonie des Jahres 2018 ist das fünfte Werk der in Los Angeles ansässigen Musikerin geworden. Julia Holter zerstört jeden Kompositionsansatz eines gewöhnlichen Singer/Songwriters. Sie fasst die heutige Welt als Tollhaus auf, als einen Ort, der den Menschen bei all den auf ihn einstürzenden Impulsen in den Wahnsinn treiben kann: als würden hundert Stimmen im Kopf ein Delirium ohne Ausweg erzeugen, als gäbe es einen Raum ohne Ausgang, in dem die schlimmsten Ängste den ganzen Körper peinigen. Julia Holter verwendet die Metapher einer Voliere, auf Englisch ´Aviary´. „Ich befand mich in einer Voliere voller kreischender Vögel“, bringt es der Satz der libanesischen Schriftstellerin Etel Adnan auf den Punkt. Dieser Satz aus deren Kurzgeschichten-Sammlung „Master of the Eclipse: and Other Stories“ begründet dieses Magnum Opus der Zerrissenheit – ein Album zwischen Kammer Rock und Avantgarde Pop.

Willkommen im Geist und Verstand von Julia Holter. Öffnet Gitter und Schlösser, damit die Vögel ein und ausfliegen können. ´Turn The Light On´ wirft uns in den Käfig des Narzissmus. Bei der erwartungsvollen Rückkehr des oder der Geliebten schlängelt das Chaos in den Wahn. Die Geigen des Exzesses und die Trompeten der Nacht setzen die Akzente. Später wird Julia Holter ihrem Lover in ´In Gardens‘ Muteness´ am Klavier Zuneigung und Abschied zugleich offenbaren. Die nächste Stufe des Wahnsinns wird gezündet. Der Dudelsack zeigt seine skurrile Schrillheit ebenfalls zum, im zweiten Abschnitt experimentell hochkochenden ´Everyday Is An Emergency´. Dunkelheit trifft auf gleißendes Licht. Die Stimme zwischen den Extremen, im Rausch oder in Besinnung. Alle Stimmen gleichzeitig heißt es lateinisch in ´Voce Simul´. Auf dem entfernten Hügel scheint Joanna Newsom zu sitzen, oder im Spacelab in ´Another Dream´. Im Stechschritt zum Synthesizer eines Sci-Fi-Soundtracks, „Blade Runner“ ist der Favorit von Frau Holter, legen sich die Tonfolgen eines ´Whether´ letztlich in die duftend frische Wiese neben Syd Barrett.

An der Seite von Julia Holter hilft: am Kontrabass – Devin Hoff, an Violine und Viola – Dina Maccabee und Andrew Tholl, an den Percussions – Corey Fogel, an der Trompete – Sarah Belle Reid, sowie am Dudelsack – Tashi Wada. Zu ´Underneath The Moon´ schellen die Percussions, groovt der Rhythmus im Taumel unter einem New Yorker Trompetenhimmel. Fiebrig senkt sich am Firmament von ´I Would Rather See´ der progressive Rock rund um die Tasten des Harmoniums. Zwischen Schönklang und Exaltationsausbruch vollzieht der Irrsinn seine letzte Wandlung im berstenden Mittelteil von ´Les Jeux To You´. Doch Julia Holter improvisiert nicht nur musikalische Kreuzungen: Sprachliche Barrieren und Gegensätze werden eins, in einer mühelosen Ausdrucksform. Geborgte Wörter aus der galloromanischen Sprache Okzitanisch nutzt ´Chaitius´, ein Kammer Rock unter dem Einfluss des Stückes ´Can vei la lauzeta mover´ aus dem Œuvre von Bernart de Ventadorn, einem Troubadour des 12. Jahrhunderts. Die Dekonstruktion zwischen Schönheit und Wahn ´I Shall Love 2´ birgt Troubadour-Lyrik unbekannten Ursprungs – ´Plus Bele Que Flor / Quant Revient / L’autrier Joer / Flos Filius´ – sowie Dantes Inferno und begibt sich in die einstigen Fänge von VELVET UNDERGROUND. Der Ausklang ´Why Sad Song´ fußt auf dem Lied der buddhistischen Nonne Choying Drolma aus Nepal.

„Spannst du eine Saite zu stark, wird sie reißen. Spannst du sie zu schwach, kannst du nicht auf ihr spielen“ – lautet eine buddhistische Weisheit von Gautama Buddha. Bei Julia Holter werden die Saiten bis zum Zerreißen gespannt, bleiben aber unversehrt, reinigen die Laute Seele und Geist.

(9,5 Punkte)

http://juliaholter.com/

https://www.facebook.com/juliashammasholter/


(VÖ: 26.10.2018)