RETREAT FROM MOSCOW – The Illusion Of Choice

Als RETREAT FROM MOSCOW im Jahr 2016 nach Jahrzehnten der Stille wieder zusammenfanden, hätte niemand ahnen können, dass sie nur wenige Jahre später ein Werk von solcher Souveränität vorlegen würden wie ´The Illusion Of Choice´. Ihr drittes Album seit der Wiedervereinigung ist weit mehr als ein weiterer Eintrag in der Diskographie einer Band, die einst in den späten Siebzigerjahren in Cardiff gegründet wurde. Es ist ein großes Ausrufezeichen über musikalische Beständigkeit, kreatives Selbstvertrauen und die Kunst, Tradition und Innovation zu vereinen.

Von den ersten Tönen des Titelstücks ´The Illusion Of Choice´ an wird deutlich, dass RETREAT FROM MOSCOW ihre Wurzeln im melodischen Progressive Rock bewusst weiterentwickelt haben. John Harris entfaltet auf seinen Gitarren und Keyboards einen Klangraum, der zugleich druckvoll, nuanciert und von einer feinen Sinnlichkeit getragen ist. Andrew Raymonds Spiel am Steinway-Flügel und den Synthesizern fügt schimmernde Farben hinzu, während Tony Lewis’ präziser Wal-Bass und Greg Havers markante, doch nie aufdringliche Rhythmusarbeit das Fundament bilden. Zusammen erzeugen sie einen Sound, den das Ohr sofort einfängt und den Hörer durch die komplexen Arrangements trägt, ohne je künstlich zu wirken.

´Earth-Stepper´ eröffnet sodann mit einer Überraschung. Les Penning führt mit der Blockflöte ein Element ein, das die Stücke mit pastoralem Charme durchwebt und eine fast sakrale Ruhe über den ansonsten kraftvollen Sound legt. Die Mandoline, die keltische Harfe und feine Details in der Instrumentierung lassen jeden Moment aufleuchten, während die Band die Spannung zwischen Dichte und Leichtigkeit meisterhaft austariert. Man spürt die Freude am Spiel, die in jedem Ton mitschwingt, und die reflektierte Reife einer Formation, die aus Erfahrung schöpft, ohne nostalgisch zu wirken.

Mit ´Bones Will Sing´ erreicht das Album eine seiner emotionalen und klanglichen Spitzen. Gastsängerin Christina Booths (MAGENTA) Stimme fügt sich in die epische, fast mittelalterlich anmutende Harfenlandschaft ein, Harris’ Gitarrenlinien schlagen gleichzeitig ausdrucksstarke Bögen, die sich zwischen Melancholie und triumphaler Eleganz bewegen. Jeder Übergang, jede dynamische Wendung wirkt durchdacht und dennoch natürlich, als würden die Musiker im Moment improvisieren, obwohl die Komposition minutiös orchestriert ist. ´Navigators Of The Trym´ trägt autobiografische Tiefe in sich, denn Tony Lewis verarbeitet darin Erinnerungen an eine Nahtoderfahrung aus der Jugend. Getragen von einer fast schwebenden rhythmischen Leichtigkeit, lässt die Musik den Hörer in einen Spiegel von Gefahr und Hoffnung eintauchen.

Die beiden folgenden Stücke ´Polina´ und ´Snowfall Road´ offenbaren die Fähigkeit der Band, aktuelle und schwerwiegende Themen in einen musikalischen Kontext zu übertragen. Die Tragik des Krieges, das Leid unschuldiger Menschen, die existenzielle Bedrohung einer ganzen Generation – all dies wird durch den expressiven Einsatz von Klavier, Gitarre und Gesang greifbar, ohne in plakative Dramatik abzugleiten. Jillian Slade, nach dem letzten Werk abermals hier vertreten, verstärkt auf ´Polina´ die emotionale Intensität mit einer Stimme, die zugleich zerbrechlich und durchdringend kraftvoll ist.

Den Abschluss bildet ´Black Mist´, ein Stück, das in seiner düsteren Schönheit das Album thematisch und klanglich zusammenführt. Der Bass von Tony Lewis wogt wie ein dichter Nebel, Havers Schlagzeug setzt akzentuierte Akzente, während Harris’ Soli durch die Dunkelheit schneiden und Raymonds Keyboards sphärische Räume öffnen, die den Zuhörer in eine nachhallende Nachwelt zwischen Realität und Traum versetzen.

´The Illusion Of Choice´ ist ein Album, das sowohl den Geist der späten Siebziger und frühen Achtziger atmet als auch die reife, reflektierte Musikalität einer Band präsentiert, die das Handwerk, die Dynamik und das Zusammenspiel über Jahrzehnte verfeinert hat. RETREAT FROM MOSCOW gelingt es, melodischen Progressive Rock in seiner ganzen Vielfalt darzustellen. Dieses Werk ist kein nostalgischer Rückgriff, sondern ein lebendiges Zeugnis aus musikalischer Erfahrung, Experimentierfreude und emotionalem Ausdruck – und zeigt sich in berührenden Komposition.

In seiner Klarheit, den nuancierten Arrangements und der stilistischen Reife hebt sich ´The Illusion Of Choice´ deutlich von früheren Veröffentlichungen ab. Es zeigt eine Band, die mit Selbstbewusstsein und gestalterischer Souveränität das eigene Erbe neu definiert. ´The Illusion Of Choice´ ist ein Album, das beim ersten Hören fesselt, beim wiederholten Durchlauf neue Schichten offenbart und den Hörer auf eine Reise durch Klangfarben, Emotionen und erzählerische Spannungsbögen mitnimmt, die lange nachklingt.

(8,5 Punkte)

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