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HORACE SILVER – Silver In Seattle: Live At The Penthouse

2025 (Blue Note) - Stil: Jazz

Wenn man über die Goldenen Jahre des Hard Bop spricht, führt kein Weg an Horace Silver vorbei. Der Pianist, Komponist und Arrangeur prägte über drei Jahrzehnte die Soundlandschaft von “Blue Note Records”. Seine Musik war mitreißend, bluesig und funky sowie stets meisterhaft komponiert. Vor allem war sie ein deutlich spürbarer Gegenpol zur virtuosen Bebop-Tradition.

Doch trotz zahlreicher Studioaufnahmen und Klassiker-Scheiben, wie etwa ´Blowin’ The Blues Away´, ´Song For My Father´ oder ´The Cape Verdean Blues´, blieb ein besonders faszinierendes Live-Dokument aus dem August 1965 jahrzehntelang verborgen: ´Silver In Seattle – Live At The Penthouse´. Es ist das erste offiziell veröffentlichte Livealbum des Horace Silver-Quintetts seit den frühen Sechzigerjahren.

Die Besetzung jener Tage war kurzlebig, aber besonders legendär. Neben Horace Silver standen Woody Shaw an der Trompete, Joe Henderson am Tenorsaxophon, Teddy Smith am Bass und Roger Humphries am Schlagzeug auf der Bühne des “The Penthouse”, einem Club im Erdgeschoss des Kenneth Hotels in Seattle. Es war ein Quintett, das an diesen beiden Abenden einen glanzvollen Meilenstein in Horace Silvers Karriere setzte.

Horace Silver war bekannt dafür, lange Soli zu vermeiden. Stattdessen setzte er auf die Kraft der Komposition, auf ausgefeilte Horncharts und ein rhythmisches Gerüst, das seine Musiker zu Höchstleistungen anspornte. Im “Penthouse” bekam jeder Musiker ausreichend Raum für die individuelle Entfaltung, während das fünfköpfige Ensemble in seiner Gesamtheit eine organische Energie erzeugte, die an ein Big-Band-Feeling erinnerte.

Seattle, 1965: Ein Club, der Geschichte schrieb

Der “Penthouse”-Jazzclub in Seattle war von 1962 bis 1968 ein Mekka für Jazzliebhaber. Hier traten Größen wie John Coltrane, Wes Montgomery und Cannonball Adderley auf – doch Horace Silvers Auftritt sticht hervor. Die Aufnahmen stammen von Jim Wilke, Radio-Host und Ingenieur bei KING-FM, der die Sessions live aufnahm und direkt auf Sendung mischte. Er plante die Aufnahmen mit strategischem Kalkül, jeder Mikrofonplatz und jede Leitung wurde minutiös vorbereitet, doch die spontane Magie der Live-Performance blieb unberechenbar. Jede Note, jeder Atemzug wurde unmittelbar übertragen, ohne Möglichkeit zur Nachbearbeitung. Die schlichte Technik mit RCA-77-DX-Ribbonmikrofonen und alten Bändern aus den 30er- und 40er-Jahren sorgte dafür, dass die Aufnahmen nicht nur historisch, sondern auch klanglich authentisch wirken.

Die Musiker im Rampenlicht

Horace Silver – der Architekt des Quintetts
Horace Silver gilt als einer der entscheidenden Köpfe, die aus dem Post-Bebop eine neue, eigenständige Sprache schufen. Seine Pianotechnik verband Blues, Gospel und Rhythm & Blues mit der formalen Strenge des Jazz.

Anders als viele Zeitgenossen setzte er auf klar strukturierte Kompositionen, die Raum für improvisatorische Freiheit ließen, ohne die melodische Linie zu verlieren. Seine Arrangements waren durchdacht und ließen kleine Gruppen wie große Bands klingen. Seine rhythmische Präzision und die Fähigkeit, Hornlinien wie ein Dirigent zu führen, legten das Fundament für das, was heute als Hard Bop verstanden wird.

Horace Silver war das Herzstück des Quintetts. Sein Piano fungierte als Ankerpunkt, seine Kompositionen als Leitfaden, während alles andere improvisiert wurde. Er setzte die Impulse, die die anderen Musiker zu spontanen Reaktionen inspirierte.

Woody Shaw – der junge Feuerkopf
Woody Shaw solierte auf drei Stücken, hinterließ aber in jeder Note einen bleibenden Eindruck, einen explosiven als auch einen sensiblen. Besonders auf ´Sayonara Blues´ zeigte er schnelle Läufe, lange Bögen und harmonische Experimente. Er fügte während des Spiels kleine, unvorhergesehene Wendungen ein, die das Ensemble zu noch konzentrierterem Spiel motivierten. Woody Shaw selbst berichtete, dass er erst mit diesen Mitspielern richtig verstand, was es heißt, in einer Band wie dieser, mit Struktur, Form und gleichzeitiger Freiheit, zu spielen.

Joe Henderson – der reife Virtuose
Joe Henderson befand sich noch in der Phase der stilistischen Entwicklung. Seine Soli in Seattle waren jedes Mal ein kleines Experiment. Einmal improvisierte er während ´The Cape Verdean Blues´ eine Wendung, die Horace Silver spontan zu einem neuen Rhythmusvamp inspirierte. Ein magischer Moment, der in die Geschichte einging.

Teddy Smith und Roger Humphries – das rhythmische Rückgrat
Teddy Smith am Bass und Roger Humphries am Schlagzeug lieferten das Fundament, auf dem die Solisten aufbauten. Teddy Smiths Basslinien waren verspielt und rhythmisch flexibel, Roger Humphries improvisierte subtil zwischen Snare, Tom-Toms und Kick Drum. Während die spontane Kommunikation zwischen Rhythmusgruppe und Solisten den besonderen Funken erzeugte, beeinflusste diese Interaktion sogar spätere Schlagzeuglegenden.

Klassiker in neuem Licht

Das Album eröffnet mit ´The Kicker´, einem 13-minütigen und äußerst energiegeladenen Stück, bei dem Woody Shaw unverfroren dissonante Noten einstreut, Joe Henderson mit komplexen rhythmischen Figuren reagiert, und Horace Silver virtuos improvisiert. Seine linke Hand liefert treibende Vamps, während die rechte bluesige Läufe spielt, die an Thelonious Monk erinnern.

´Song For My Father´ zelebriert das Quintett fast identisch zur Studioaufnahme, doch Joe Hendersons Solo entwickelt sich intensiver, getragen von Horace Silvers subtiler Begleitung. Woody Shaw beschränkt sich auf die Unison-Linien, ein typisches Stilmittel von Horace Silver, das publikumsfreundliche Stücke für Saxophon-Soli öffnet.

´The Cape Verdean Blues´ wirkt im Gegensatz zur einen Monat später aufgenommenen Studio-Version lebendiger, spontaner und rhythmisch komplexer. Horace Silver setzt afrikanische Rhythmen ein, Joe Henderson improvisiert neue Ideen und Roger Humphries’ calypso-artige Schlagzeugfigur trägt den Fluss des Stücks.

´Sayonara Blues´, ursprünglich von ´The Tokyo Blues´, entwickelt sich zu einem 18-minütigen Feuerwerk. Joe Henderson baut lange melodische Bögen auf, Woody Shaw spielt schnelle Passagen, Roger Humphries liefert treibende Triplets, und Horace Silver improvisiert zwischen den Instrumenten.

Das Set schließt mit ´No Smokin’´, einem Bebop-Stück aus den 50ern, dessen Intensität Joe Hendersons Solo sanft einleitet, bevor Roger Humphries’ Drums die Wände zum Wackeln bringen – ein perfektes Finale.

Historische Einordnung

Die Veröffentlichung ist nicht nur für Jazz-Liebhaber ein Gewinn, sondern ein historisches Dokument. Horace Silver war nahezu exklusiv an “Blue Note” gebunden – von 1952 bis 1980 erschienen fast alle seine Aufnahmen bei dem Label. Doch trotz dieser engen Verbindung blieb die “Penthouse-Session” aus dem Jahre 1965 jahrzehntelang unveröffentlicht. Erst jetzt, mit der offiziellen Veröffentlichung von ´Silver In Seattle – Live At The Penthouse´, öffnet “Blue Note” sein Archiv für eines der faszinierendsten Live-Dokumente aus Horace Silvers Blütezeit.

Zev Feldman, leidenschaftlicher „Jazz-Detektiv“, Historiker und Produzent, erhielt die Bänder 2010–2011 von Charlie Puzzo Jr., dessen Vater den „Penthouse“-Club betrieb. Er erklärte, dass diese Aufnahmen Einblicke in die Entwicklung des Hard Bop liefern, wie sie nirgendwo sonst dokumentiert sind, und dass sie die Essenz von Horace Silver und seiner Band unmittelbar erfahrbar machen.

Das beiliegende Booklet der Veröffentlichung ergänzt diese historischen Momente mit seltenen Fotos von Francis Wolff, Burt Goldblatt, Jean-Pierre Leloir und weiteren Fotografen, dazu Essays des renommierten Jazzkritikers Bob Blumenthal sowie Interviews mit Roger Humphries, Randy Brecker, Alvin Queen und dem Pianisten Sullivan Fortner, der den nachhaltigen Einfluss Silvers auf die heutige Generation von Pianisten beleuchtet.

Das Quintett selbst existierte nur für kurze Zeit, doch gerade in dieser Phase bündelte es Horace Silvers Innovationsgeist, seine Fähigkeit, andere zu inspirieren, und seine Offenheit gegenüber jungen Talenten. Roger Humphries erinnerte sich, dass die Zusammenarbeit mit Woody Shaw und Joe Henderson nicht nur Spaß machte, sondern alle Musiker zu Höchstleistungen trieb. Für Zev Feldman, als Produzent von ´Silver In Seattle – Live At The Penthouse´, verkörpert dieses Quintett die Quintessenz des Hard Bop – eine Formation, in der musikalische Brillanz, jugendliche Energie und kreativer Einfallsreichtum zu einem unvergesslichen Höhepunkt verschmelzen.

Ein Schatz für die Ewigkeit

´Silver In Seattle – Live At The Penthouse´ ist ein Muss für jeden Jazzfreund. Die Kombination aus jugendlicher Energie, meisterhaftem Zusammenspiel und Horace Silvers unnachahmlicher Pianotechnik macht das Album zu einem Höhepunkt in seiner Diskographie.

Die Live-Aufnahmen vermitteln Hard Bop in seiner rohesten und unmittelbarsten Form. Von Joe Hendersons ständig variierenden Soli über Woody Shaws explosive Trompetenpassagen bis hin zu Horace Silvers prägnanter Klavierarbeit, dieses Quintett sprengt die Grenzen des Small-Group-Jazz und hinterlässt einen bleibenden Eindruck.

Vor allem ist ´Silver In Seattle – Live At The Penthouse´ ein lebendiges Zeugnis der kreativen Kraft Horace Silvers, nunmehr eingefangen für die Ewigkeit. Wer Horace Silver oder Hard Bop liebt, kommt an dieser Veröffentlichung nicht vorbei.

Tracklist

Side A:
The Kicker
Song For My Father
The Cape Verdean Blues

Side B:
Sayonara Blues
Band Introductions
No Smokin’

Besetzung

Horace Silver – Piano
Woody Shaw – Trompete
Joe Henderson – Tenorsaxophon
Teddy Smith – Bass
Roger Humphries – Schlagzeug

https://www.facebook.com/horacesilvermusic

 

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