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LED ZEPPELIN – Physical Graffiti (50th Anniversary Deluxe Edition)

1975/2025 (Atlantic) - Stil: Hardrock

Es gibt Alben, die klingen zu gut, zu präzise und geplant, aber es gibt auch ´Physical Graffiti´. Das sechste Studioalbum von LED ZEPPELIN ist kein sauber poliertes Studiowerk, sondern ein gewaltiger Koloss aus Riffs, Rhythmen und roher Kreativität. Es ist ein Klanggebirge, in dem jede Note nach Staub, Schweiß und elektrischer Energie riecht.

1975, auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, entfachten LED ZEPPELIN hier ein Doppelalbum, das nicht nur ihre Karriere krönte, sondern auch ein ganzes Rock-Zeitalter in Stein meißelte. Wenn das namenlose vierte Album ihr Mythos war, ist ´Physical Graffiti´ ihre Welt – weit, widersprüchlich, grenzenlos.

Nach Jahren des Tourens, Ruhms und Exzesses standen Jimmy Page, Robert Plant, John Paul Jones und John Bonham 1973 an einem entscheidenden Punkt. Plant verlor sich in fremden Melodien, Page in endlosen Gitarrenvisionen, Bonham trommelte wie ein Vulkan, und Jones war kurz davor, dem Ganzen den Rücken zu kehren. Doch anstatt auseinanderzufallen, zogen sie sich in die bröckelnden Mauern von Headley Grange zurück – ein verwinkeltes Landhaus, das schon für ihr viertes, namenloses Album als kreativer Hexenkessel gedient hatte. Mit Ronnie Lanes Mobile Studio parkten sie die Technik direkt vor der Tür, zogen Kabel durch feuchte Flure und ließen die Ideen frei fliegen.

Aus diesen Sessions im Winter 1973/1974 entstanden acht brandneue Stücke. Da diese Songs fast drei LP-Seiten füllten, öffneten sie zusätzlich ihre Schatzkiste. Unveröffentlichte Aufnahmen aus den Jahren 1970 bis 1973 wurden wieder ausgegraben, entstaubt und neu überarbeitet. Jimmy Page, als Produzent und Klangarchitekt, nähte alles mit stoischer Hand zusammen. Im Sommer 1974 vollendete er das Mixen in den Londoner “Olympic Studios”, während Peter Corristons ikonisches New Yorker Mietshaus-Cover langsam Gestalt annahm – ein Cover, das wie das Album selbst keine glatte Fassade bot, sondern Fenster voller schillernder Fragmente zeigte.

Dieses Ausnahmewerk beginnt mit dem energiegeladenen ´Custard Pie´, einem scharfkantigen Rockstampfer voller sexueller Doppeldeutigkeiten, dessen Clavinet-Funk und verzerrte Gitarrenriffs wie ineinandergreifende Zahnräder wirken. Robert Plant unterlegt die Musik mit schmutzigen Gedanken, rauer, bluesdurchtränkter Stimme und Harp-Einsätzen, die auf klassische Blues-Traditionen zurückgehen, während Jimmy Page die Saiten jaulen lässt.

Danach schleicht ´The Rover´ majestätisch heran, ursprünglich als Akustikstück in Wales entstanden und nun als strahlender Rock-Moloch episch wiederbelebt. John Bonhams Schlagzeug treibt den rhythmischen Song zunächst subtil, dann aufflackernd an, während Jimmy Pages außergewöhnlich grandios einprägsame Gitarrenlinien zwischen mittelalterlich anmutenden Riffs und hypnotischen Soli wechseln.

Mit ´In My Time Of Dying´ ziehen LED ZEPPELIN einen archaischen Blues aus der Tiefe, elf intensive Minuten lang, live eingefangen im Studio. Jimmy Page spielt einige seiner schönsten Momente auf der Slide-Gitarre, John Bonham zerlegt im passenden Moment das Schlagzeug und Robert Plant jauchzt wieder an der Himmelspforte – einer der eruptivsten Momente der Musikgeschichte. John Bonham hustet am Ende ins Mikro, und nichts wurde gesäubert – erbarmungslose Energie, die direkt aus dem Raum strömt.

´Houses Of The Holy´, benannt nach den schillernden Kultstätten, ihren Auftrittsorten in Stadien und Arenen, sowie ursprünglich für das gleichnamige Album gestrichen, kehrt nun als glänzendes Juwel zurück, leichtfüßig und verspielt.

Dann folgt ´Trampled Under Foot´ für eine verschwitzte Fahrt auf dem Highway, schließlich verwendet der scharfkantige Song Autoteile als Metaphern für sexuelle Andeutungen. Bei diesem Funk Rock-Meisterwerk bereichert John Paul Jones mit der Clavinet den Groove, mit dem John Bonham die Gruppe weiter vorantreibt und Jimmy Page schneidet mit seinen Gitarrenriffs durch den Beat.

Und schließlich ´Kashmir´, ein monumentales, hypnotisches und episches Stück. Ein achtminütiger Trip mit endlosem Rhythmus, orchestralen Overdubs durch Sessionmusiker, John Paul Jones mit einem Mellotron-Part, Jimmy Page und John Bonham als Titanen, Robert Plant mit Texten inspiriert von einer endlosen Fahrt durch trostlose Wüstengegenden von Marokko – ein außergewöhnlicher und höchst origineller Song, der Rockgeschichte schrieb.

Die zweite Hälfte zeigt Zeppelin von ihrer experimentierfreudigen, fast zerbrechlichen Seite. ´In The Light´ schwebt mit einzigartigen Synthesizer-Klängen von John Paul Jones und einem abermaligen kurzen Einsatz des Violinen-Bogens auf den Saiten von Jimmy Page zu gleißenden Gitarrenexplosionen. Laut Jimmy Page der verkappte Nachfolger von ´Stairway To Heaven´.

´Bron-Yr-Aur´, nach einem kleinen Cottage in den Bergen von Wales benannt, ist Jimmy Pages zarter akustischer Atemzug. ´Down By The Seaside´ flirrt als nostalgische Erinnerung an die wundervolle Natur und das schöne Gewöhnliche, mit John Paul Jones am E-Piano, wie ein verlorener Traum durch den Raum und die Zeit, ehe sich die Klänge auftürmen. Und das emotionale ´Ten Years Gone´ lässt Robert Plants Herz bluten, weil ihn seine Partnerin vor die Wahl stellte, während Jimmy Page Schichten von Gitarren wie melodische Fresken aufeinanderlegt.

Im vierten Rundgang drehen sie aber nochmal auf. ´Night Flight´ jagt flott und flimmernd mit Hammond-Orgeln rockend und mit Gitarre über einen Leslie-Lautsprecher rollend durch den Himmel, um während des Vietnamkriegs der Einberufung zum Militär zu entgehen. ´The Wanton Song´ entfacht auf direkte und intensive Weise puren Riff-Sprint, mit einem scharfen, aggressiven Riff zwischen zwei Noten im Abstand von einer Oktave, passend zum lustvollen und hemmungslosen Verlangen.

´Boogie With Stu´ ist ein schräger Rock’n’Roll-Jam, da an einem verstimmten Klavier bei einer lockeren Session mit Ian Stewart, bekannt von den Stones-Alben, am Piano aufgenommen. ´Black Country Woman´ bringt als akustisches Stück etwas charmanten Folk-Geist ins Studio, und weitere sehnsuchtsvolle Texte. Dagegen rast ´Sick Again´ im Tourbus durch die dekadenten Nächte der US-Tournee, samt aller Erlebnisse und Erfahrungen mit Groupies.

Viele Tracks wurden ursprünglich für frühere Alben aufgenommen, aber für ´Physical Graffiti´ neu überarbeitet: ´Bron-Yr-Aur´ war einst eine kurze akustische Nummer aus LZ III, wohingegen ´Night Flight´, ´Boogie With Stu´ und ´Down By The Seaside´ ursprünglich für LZ IV geplant waren. ´Black Country Woman´, ´Houses Of The Holy´ und ´The Rover´ stammen aus den ´Houses Of The Holy´-Sessions.

Brandneu wurden für das Album ´Custard Pie´, ´In My Time Of Dying´, ´Trampled Under Foot´, ´Kashmir´, ´In The Light´, ´Ten Years Gone´, ´The Wanton Song´ und ´Sick Again´ komponiert. Diese Mischung aus alten und neuen Aufnahmen zeigt, dass LED ZEPPELIN ihre kreative Schärfe nie verloren hatten.

Jeder Track ist sorgfältig komponiert und oft mit subtilen Overdubs versehen. Das Album vereint Blues, Funk, Folk, Rock, Country, Gospel und sogar frühe Anklänge an Progressive Rock – ohne sich jemals aufzudrängen oder Füllmaterial zu liefern.

LED ZEPPELIN zeigen ihre Nähe zum Progressive Rock vor allem durch lange Strukturen (´Kashmir´, ´In My Time Of Dying´, ´In The Light´), mehrschichtige Arrangements, experimentelle Synth- und Orchester-Elemente. Dennoch bleibt das Fundament Blues. Die Band schöpft aus den Traditionen des amerikanischen Südens, integriert Gospel, Ragtime, Rhythm-Talk und Soul – und transformiert dies in einen eigenen, elektrischen Rocksound.

Tracks wie ´Custard Pie´ und ´Trampled Under Foot´ demonstrieren verspielte Sexualität und groovende Riffs, ´The Rover´ zeigt globale Bewusstheit und meditative Gitarrenarbeit, ´In The Light´ offenbart introspektive Synth-Passage und Thelonious-Monk-artige Harmonie. Zusammen bilden sie eine Rückkehr zum imaginären „Golden Age“ des Rock – eine Mischung aus Abenteuer, Virtuosität und grenzenloser Kreativität.

´Physical Graffiti´ war mehr als ein kommerzieller Triumph – es sprengte die Grenzen dessen, was ein Rockalbum sein konnte. In einer Zeit, in der Rock zunehmend formelhaft wurde, boten LED ZEPPELIN ein Doppelalbum, roh und doch monumental, wild und zugleich sorgfältig gebaut. Es zeigte, dass Rockmusik sowohl Kunst als auch Exzess sein kann.

Das Album prägte das Selbstverständnis der Rockkultur. Bands konnten ihre eigene Welt erschaffen, unabhängig von Radiotrends oder Labelvorgaben. Die Gründung von “Swan Song Records” symbolisierte dies eindrucksvoll, vor allem durch Künstler, die ihre Vision über kommerzielle Zwänge stellten. Bis heute gilt ´Physical Graffiti´ als Referenz für kreative Freiheit, kompromisslosen Ausdruck und den Mut, alles zu riskieren.

´Physical Graffiti´ ist kein Album, das man nur hört – man wohnt ihm bei. Mit Hits wie ´Kashmir´ und ´In My Time Of Dying´, Funk-Experimenten, folkigen Zwischenstücken und bluesgetränkten Epics ist es die Essenz von LED ZEPPELIN – wild, majestätisch und ungezähmt. Ein Monument, das nicht altert, sondern weiterlebt – laut, schillernd und unsterblich.

(Klassiker)

2025 erscheint ´Physical Graffiti´ als 50th-Anniversary-Deluxe-Edition auf 180g-Vinyl als 3LP-Set.

Die Pressung basiert auf dem Remaster von 2015 durch Jimmy Page und verwendet die gleiche Audioquelle. Die dritte LP, das „Companion Audio Disc“, enthält sieben bisher unveröffentlichte Tracks, darunter frühe Mixe von ´In My Time Of Dying´, ´Houses Of The Holy´, ´Trampled Under Foot´ (´Brandy & Coke´) und alternative Versionen wie ´Everybody Makes It Through´ (frühes ´In The Light´).

Die Verpackung reproduziert das Originalcover mit den typischen Schaufensterfenstern, enthält dünnere, aber praktische Innensleeves und ein Bonus-Poster. Die Pressung klingt klar, tief und dynamisch, mit größeren Drums, runderem Bass und warmerem Gesang. Überraschenderweise kann man den Klang im Vergleich zur Pressung von 2015 loben.

Die 3LP-Edition kann daher für ihre Mischung aus akustischer Qualität, Bonusmaterial und Authentizität gepriesen werden und markiert ein erneutes Highlight in der Diskografie von LED ZEPPELIN, das die Vision und Kraft des Originals für neue Generationen hörbar macht.

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