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MILES DAVIS – Walkin’

1957/2025 (Prestige/Craft Recordings) - Stil: Jazz

Frühling 1954. Miles Davis steht an einem Scheideweg. Der Glanz seiner frühen Erfolge ist verblasst, der schnelle Puls des Bebop, den er mit Dizzy und Bird geformt hat, ist für ihn ausgereizt. Inspiriert von Ahmad Jamals Kunst der Auslassung, dem bewussten Atmen zwischen den Noten, beginnt Miles Davis seinen eigenen Sound neu zu definieren. Er wird kühler, aufgeräumter, mit einem tieferen Blues-Fundament und einem unerschütterlichen Sinn für Melodie.

Doch es ist nicht nur eine ästhetische Neuorientierung. Hinter den Kulissen kämpft Miles Davis mit seiner Heroinabhängigkeit, die ihn für viele Clubbesitzer zur unzuverlässigen Persona non grata macht. Als jedoch Columbia-A&R-Manager George Avakian ´Walkin’´ hört, sieht er in der Musik die Bestätigung, dass Miles Davis wieder in die Spur zurückgefunden hat.

´Walkin’´ ist eine Zusammenstellung zweier Aufnahmesitzungen aus dem April 1954 in Rudy Van Gelders legendärem Heimstudio. Die erste, am 29. April, bringt ein Sextett zusammen: Miles Davis an der Trompete, J.J. Johnson an der Posaune, Lucky Thompson am Tenor, Horace Silver am Klavier, Percy Heath am Bass und Kenny Clarke am Schlagzeug. Die zweite Session, bereits am 3. April, reduziert das Ensemble zum Quintett: Miles Davis, Horace Silver, Percy Heath, Kenny Clarke – und David Schildkraut am Alt.

Die A-Seite des Albums gehört dem Sextett sowie der Blues-Tradition (und wurde ursprünglich 1954 auf der 10″-LP ´Miles Davis All-Star Sextet´ veröffentlicht). Die B-Seite zeigt die Quintett-Formation, wendet sich vom reinen Blues ab und öffnet sich für Balladen sowie Standards (und wurde mit zwei der drei Songs ursprünglich 1954 auf der 10″-LP ´Miles Davis Quintet´ veröffentlicht).

Der Titeltrack ´Walkin’´ – 13 Minuten und 26 Sekunden – ist kein gewöhnlicher Eröffnungssong. Er ist eine Art Gründungsakt des Hard Bop. Ein 12-Takte-Blues, dessen Komposition mal Jimmy Mundy, mal Gene Ammons, oder auch mal Miles Davis selbst zugeschrieben wird. Miles Davis eröffnet das Stück und somit die Seite A mit offenem Horn, fast ohne Vibrato, sein Ton klar wie Glas, aber warm wie polierter Messing. Er lässt Pausen sprechen, spielt Raum und Stille mit derselben Autorität wie Töne. J.J. Johnson steigt mit butterweicher Posaune ein, Lucky Thompson formt Linien, die gleichzeitig erdig und elegant sind, und Horace Silver liefert funky Akzente, die zeigen, wohin der Jazz in den nächsten Jahren gehen würde. Kenny Clarke und Percy Heath halten den Groove unerschütterlich, wie ein Puls, der niemals stolpert.

´Blue ’n’ Boogie´, aus der Feder von Dizzy Gillespie und Frank Paparelli, zieht das Tempo an. An dieser Stelle leuchtet der Bop-Hintergrund der Band nochmals auf, mit schnellen Läufen, dichten Interaktionen und einem energiegeladenen Spiel. Lucky Thompson bläst mit Attacke, und Horace Silver setzt perlende Läufe darüber. Kenny Clarke ist hier nicht nur Begleiter, sondern ein Antreiber der Solisten.

Mit ´Solar´ öffnet sich eine andere Welt und die Seite B. Offiziell Miles Davis angerechnet, tatsächlich jedoch nahezu identisch mit Chuck Waynes ´Sonny´, ist es ein mittlerer Swing, der Miles Davis’ Spiel mit dem Trompetendämpfer “Harmon Mute” über alle drei Stücke dieser Seite trägt. Das Dämpferhorn lässt seinen Ton intimer wirken, als würde er direkt ins Ohr spielen. David Schildkraut antwortet mit geschmeidigen, melodischen Linien, Horace Silver malt in Pastelltönen, Kenny Clarke pinselt dezent auf den Becken.

´You Don’t Know What Love Is´ ist eine Ballade, die Miles Davis mit schwebendem Ton spielt, jede Phrase dabei wie ein fragiles Glas, das man nicht zu fest anfassen darf. Horace Silver unterlegt ihn mit dunklen Akkorden, Percy Heath und Kenny Clarke schaffen einen späte Nachtatmosphäre, in der die Zeit träge wird.

´Love Me Or Leave Me´ beschließt die Platte mit einem Schuss Adrenalin. Das Tempo geht hoch, die Soli sind scharf, Kenny Clarke streut kurze Breaks ein, David Schildkraut bläst mit heller Energie, und Miles Davis bleibt souverän. Jede einzelne Note sitzt, als hätte jemand drei Züge vorausgedacht.

In seiner Kombination aus erdigem Blues und urbanem Swing, aus Weite und Präzision, ist ´Walkin’´ ein Wendepunkt. Hier beginnt der Hard Bop offiziell zu atmen. Die Titelnummer ´Walkin’´ und ´Solar´ sind längst Standards, aber es ist die gesamte Atmosphäre dieser Aufnahmen, die beeindruckt. Es ist der Klang einer Band, die vorwärts geht, aber jeden Schritt mit Bedacht setzt.

Für Miles Davis selbst ist ´Walkin’´ der erhoffte Befreiungsschlag, künstlerisch und persönlich. Und seine Hörerschaft legt das Album bis zum heutigen Tag immer wieder auf, und swingt wie anno 1954 jedes Mal aufs Neue mit: Schritt für Schritt, Takt für Takt.

(9 Punkte)

Die neue 2025er Edition von ´Walkin’´ aus der legendären “Original Jazz Classics Series” bringt dieses Album in seiner ganzen Pracht zurück: 180g-Vinyl, gepresst bei RTI, mit Lackfolien (AAA) direkt von den Originalbändern geschnitten von Kevin Gray bei “Cohearent Audio” und verpackt im edlen Stoughton Tip-On-Cover mit Obi.

Das Mastering ist klar und tief, mit beeindruckender Instrumententrennung. Die Pressung ist absolut sauber, still und eben. Ein großartiger Schnitt von Kevin Gray, optisch wie klanglich ein Genuss. Eine kraftvolle, detailreiche Neuauflage, die den Geist und die Wärme der Originalaufnahme von 1954 authentisch einfängt. Somit eine exzellente Wiederveröffentlichung und ein audiophiles Erlebnis für Jazzliebhaber.

https://www.facebook.com/MilesDavis

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