
STEVEN WILSON – Hand. Cannot. Erase. (10th Anniversary Edition)
2015/2025 (Transmission) – Stil: Prog Rock
Ein Konzeptalbum zwischen Geistergeschichte und Gesellschaftskritik. Ein Konzeptalbum in opulenten und emotionalen Soundbildern. Ein zeitloses Konzeptalbum.
Zehn Jahre ist es inzwischen her, dass Steven Wilsons ´Hand. Cannot. Erase.´ erschien. Über all diese Jahre ist das Werk gereift und gilt neben ´The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)´ längst als zentraler Eckpfeiler seiner Solodiskografie. 2025 markiert somit nicht nur ein schlichtes Jubiläum, 10th Anniversary, sondern vielmehr den Moment, dieses Album erneut zu entdecken, besonders im Lichte der Jetztzeit, in der Isolation keine Allegorie mehr ist, sondern längst Alltagszustand.
Steven Wilson stieß durch den Dokumentationsfilm “Dreams Of A Life” auf den tragischen Fall der Joyce Carol Vincent. Eine Frau, die über zwei Jahre lang tot in ihrer Londoner Wohnung lag, ohne dass es jemandem auffiel. Niemand hatte sie vermisst. Aus dieser erschütternden Vorlage entwickelte Steven Wilson ganz in der Tradition der klassischen Konzeptwerke eine fiktive Erzählung, poetisch und menschlich zugleich. Die Erzählweise über die schleichende Entfremdung eines Individuums inmitten der Masse bleibt introspektiv, getragen von Tagebucheinträgen, Erinnerungsfragmenten sowie inneren Monologen – und erstmals auch mit einer weiblichen Stimme.
Schon der eröffnende Zweiteiler ´First Regret´ und ´3 Years Older´ entfaltet sich wie ein filmischer Vorspann mit Spannungsbogen. Zartes Piano, verhallte Gitarrenflächen, Kinderlachen. Ein erster Blick in das Innenleben der namenlosen Protagonistin. Was als leiser Rückzug in das Innere beginnt, weitet sich zum klassischen Prog Rock-Stück mit eruptiven Riffs, dramatischem Orgelspiel und verschachtelten Rhythmen aus. Eine Erinnerung an verpasste Chancen, formuliert in musikalischer Bewegung.
Der Titelsong ´Hand. Cannot. Erase.´ bricht diese Struktur bewusst auf. Mit antreibendem Puls, feiner Melodie, bittersüß und fast hymnisch. Als wolle er die Alltäglichkeit des Verschwindens in Melodie fassen. In ´Perfect Life´ schlägt Steven Wilson eine Brücke zu seinen Sound-Experimenten. Elektronische Texturen, ein stoischer Beat und Katharine Jenkins erzählt einleitend eine nüchterne Rückschau auf eine Mädchenfreundschaft, die zum emotionalen Echo der Hauptfigur aufsteigt. Dieser zarte Moment geht in Steven Wilsons Gesang auf wie eine Erinnerung, die sich weigert, zu verblassen.
´Routine´ wird zum emotionalen Zentrum des Albums. Die israelische Sängerin Ninet Tayeb verkörpert das emotionale Vakuum einer Mutter nach dem Verlust ihrer Kinder mit erschütternder Klarheit. Das Arrangement folgt dabei der inneren Logik der Trauer, erst reduziert, dann aufwallend, dann fast katastrophisch. In der Coda gipfelt der Song in einem virtuosen Gitarrensolo von Guthrie Govan, das mehr erzählt, als Worte sagen könnten.
Es folgen die miteinander verwobenen ´Home Invasion´ und ´Regret #9´. Zwei Stücke, die von innerem Aufbegehren und digitaler Entfremdung handeln. Der eine im kantigen Groove mit düsterem Funk-Einschlag und himmlischem Gesang, der andere ein instrumentales Klangbild mit schwebender Moog-Kreation, getragen von Adam Holzmans Tasten-Virtuosität. Zudem schwebt Guthrie Govans Gitarre wie ein zweiter Gedanke darüber. Derweil halten Bassist Nick Beggs und Saxophonist Theo Travis alles mit kammermusikalischer Leichtigkeit zusammen.
´Transience´ wirkt sodann wie ein musikalischer Zwischenruf, akustisch, transparent und beinahe folkig, so dass sich das Album einen Moment zum Innehalten gönnt, bevor es mit ´Ancestral´ zu einem dramatischen Höhepunkt ansetzt. Ein über 13-minütiges Monument aus dunkler Melancholie, schwerem Prog-Gewand, polyrhythmischer Architektur und orchestraler Dichte verbindet Flöten, Gitarren und Mellotron im Dienst eines Songs, der Vergessen, Verlust und Verdrängung in musikalische Form gießt. Auch hier schenkt Ninet Tayeb der Komposition ihre letzte emotionale Wucht.
´Happy Returns´ vereint erneut Melodie und Melancholie. Ein Brief an die Familie, ein letzter Gruß aus der Ferne. Ein Lied, eine letzte Hoffnung. Sanft, mit einem Hauch von Versöhnung. Und wenn das abschließende ´Ascendant Here On´ nur noch ein Klaviermotiv und entferntes Kinderlachen bietet, dann ist das nicht das Ende, sondern ein Echo, das sich in die Stille hinein fortsetzt.
Zum zehnjährigen Jubiläum erscheint ´Hand. Cannot. Erase.´ nun erstmals als 180g-Neon Purple Splatter-Vinyl im Half-Speed-Remastering, verteilt auf zwei LPs. Leider ohne ein Inlay, ohne Fotos und auch ohne Texte. In dieser analogen Schlichtheit, gewöhnlich dünnes Gatefold, wirkt ´Hand. Cannot. Erase.´ auch ein Jahrzehnt später wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Haptisch und inhaltlich ist die Verpackung ernüchternd, optisch und klanglich ist das Vinyl selbst hinreißend. Musikalisch bleibt es natürlich vielschichtig und traurig schön. ein Meisterstück aus dem Klangkosmos von Steven Wilson. Und wenn gegen Mitternacht das letzte Stück verklungen ist, bleibt noch dieser eine Blick in ein leises, leuchtendes Fenster irgendwo im Hochhaus gegenüber.
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