
´Congregation´ war anno 1992 der Startschuss einer ganzen Reihe klassischer THE AFGHAN WHIGS-Alben. Obwohl die Reaktionen auf die beiden nachfolgenden Scheiben, ´Gentlemen´ und ´Black Love´, in den Jahren 1993 und 1996 noch euphorischer ausfielen, waren beide letztlich nur eine Spezifizierung dessen, was Greg Dulli und seine Band mit ´Congregation´ bereits etabliert hatten.
Es war auch die erste THE AFGHAN WHIGS-Platte, die ihren Ursprung nicht mehr in reiner Punk-Aggression suchte, sondern in der atmosphärischen, emotional aufgeladenen Kraft von Soul, R&B und Motown. Die AFGHAN WHIGS des Jahres 1992, geboren 1986 in Cincinnati aus den Überresten der BLACK REPUBLICANS, hatten sich natürlich nicht vollständig von ihren Punk-Wurzeln getrennt, aber sie bezogen ihre Energie fortan aus anderen Quellen. Während viele Acts weiter auf der Härte und Rohheit des Punk beharrten, öffneten sich THE AFGHAN WHIGS mit ´Congregation´ dem Groove, der Melodie und dem Arrangement. Wo ´Big Top Halloween´ und ´Up In It´ in den Jahren 1988 und 1990 noch stark vom rohen Geist der SEX PISTOLS geprägt waren, bezog ´Congregation´ vielmehr seinen Geist vom multikulturellen der ´Sandinista!´-Ära von THE CLASH. Allerdings ersetzten AFGHAN WHIGS die Reggae-Elemente durch den Sound von Soul-Größen wie THE TEMPTATIONS, THE SUPREMES oder den FOUR TOPS. Schließlich klangen THE AFGHAN WHIGS von Beginn an wie eine Gruppe, die ihre eigene Plattensammlung mehr liebte als ihre Heimatstadt.
´Congregation´ war obendrein das erste Werk, auf dem Greg Dullis Obsession zur Sexualität – eine treibende Kraft durch sein gesamtes Werk – unüberhörbar ins Zentrum rückte. Der Einfluss des R&B verstärkte diese Thematik noch zusätzlich. Während viele Rockbands jener Zeit Gefühle hinter Metaphern versteckten, agierten Motown-Künstler meist direkter, mit Songs voller heimlicher Dramen und aufgestauter erotischer Spannung. Greg Dulli knüpfte genau dort an, nur dunkler, extremer und persönlicher.
Greg Dulli war jedoch nie ein technisch brillanter Sänger, aber ein intuitiver Arrangeur. Er war jemand, der große Chorusse bauen konnte, der seine Stimme zu einem emotionalen Werkzeug machte. Die langsameren Tempi auf ´Congregation´ ließen ihm Raum dafür. Songs wie ´Turn On The Water´, ´Conjure Me´ oder das finale ´Miles Iz Ded´ (lange der Liveshow-Closer) gehören zu den hymnischsten Stücken der Bandgeschichte.
Dabei war es nicht nur Greg Dullis Stimme, die nun komplexer wurde, auch der Sound der Band öffnete sich. Das größere Budget des “Sub Pop”-Vertrags, mit einem damaligen, für “Sub Pop” fast dekadenten Luxus-Budget von 15.000 Dollar, erlaubte subtilere Arrangements. Hier und da tauchen Klaviere auf, Orgelklänge blitzen durch und das Wah-Wah-Gitarrenlick von Rick McCollum, etwa auf ´Turn On The Water´, lässt Funk-Einflüsse durchscheinen. Die Band blieb selbstverständlich laut, aber machte Krach methodischer, nicht mehr zum Selbstzweck, sondern als Teil eines dramatischeren Gesamtsounds. Wenn sich Greg Dullis dramatische Ader mit dem kontrollierten Chaos der Band verband, etwa im Refrain von ´Turn On The Water´, entstanden so einige der packendsten Rockmomente der frühen 90er.
Auch die Entstehung des Albums war von Konflikten und Improvisation geprägt. Zwischen Juli und August 1991 in “Bear Creek” (Washington) und “Buzz’s Kitchen” (Los Angeles) produziert, war das Budget dennoch schnell verbraucht und Greg Dulli musste sich sogar einen Nebenjob suchen, um die Studiozeit zu bezahlen. Am Ende wurde das Projekt eher durch Glück als durch Planung vollendet. Nicht zuletzt, weil NIRVANA mit ´Nevermind´ nicht nur “Sub Pop”, sondern durch ihren Erfolg auch ´Congregation´ retteten. Alles getreu dem in jeder Hinsicht übergreifenden Thema Drama. Selbst das Cover-Artwork läuft darauf hinaus und zeigt aufreizend oder herausfordernd eine nackte schwarze Frau, die ein weißes Baby im Arm hält. Ein geradezu provokantes Symbol für die musikalische Fusion von schwarzem Soul und weißem Rock.
Diese Symbolik spiegelt sich auch im musikalischen Konzept des Albums wider. Im Titelsong predigt Greg Dulli “I can’t recall yet if i’m black, or if i’m white or wrong” und feiert sein gospelhaftes Ritual oder gar eine unheilige Messe. Später im Werk überrascht das Quartett sogar mit einer Coverversion von ´The Temple´ aus “Jesus Christ Superstar”. Zwar reicht Greg Dullis Stimme nicht an die theatralische Kraft der Vorlage heran, doch gerade darin liegt der Reiz. Seine flehende, brüchige Darbietung verleiht dem Song eine ganz eigene Tiefe. So treffen Theater, Schuld, Sex und Sühne in einem kathartischen Höhepunkt aufeinander. Ein Zeichen dafür, wie sehr Greg Dulli Rockmusik als Drama verstand.
Die Leidenschaft für das Interpretieren fremder Songs wurde fortan zum festen Bestandteil der Band-DNA. ´Uptown Avondale´, die nächste Veröffentlichung, bestand fast ausschließlich aus Cover-Versionen, darunter auch eine neue Version von ´Miles Iz Ded´, der Hidden Track auf ´Congregation´. Der Song, benannt nach Miles Davis’ Tod und mit dem denkwürdigen letzten Satz zum Abschied “Vergiss den Alkohol nicht”, wurde zu einem der meistgeliebten Stücke der Band.
Doch schon die ersten Zeilen des manischen, mit einem schmutzigen Riff und tribalistischen Stöcken unterlegte ´I’m Her Slave´ machen klar, worum es Greg Dulli im Speziellen geht: „Get off that stuff she said, and I’ll stone you instead.“ Er tauscht den Drogenrausch gegen Sex ein, er lässt sich im bedrohlichen und hypnotischen ´Kiss The Floor´ schlagen, im von swampigem Blues und Motown auf Drogen durchnässten ´Turn On The Water´ ertränken oder im persönlichen und verletzlichen ´This Is My Confession´ emotional entblößen. Die Hauptsache ist, es gibt einen guten Orgasmus oder einen Rausch.
In ´Conjure Me´, mit seinen messerscharfen Gitarren und etwas Funk im Spiel, findet sich seine zentrale Ansicht: “I’m gonna turn on you, before you turn on me.” Doch Greg Dulli präsentiert sich nicht einfach als Macho. Seine Texte offenbaren gleichzeitig Schuld, Verzweiflung und Selbsthass. Seine Protagonisten sind ebenso Täter wie Opfer, ebenso verführerisch wie kaputt. Viele Zeilen lassen sich als brutale Abrechnung mit eigenen Schwächen lesen. Etwa in ´Let Me Lie To You´: “Be kind when I deceive you. You must never question me. Just quietly believe.” Auf den ersten Blick frauenverachtend, geht es Greg Dulli um eine tiefere, ungeschönte Darstellung toxischer Muster.
Und all das vollzog sich in einem Moment, in dem sich die musikalische Landschaft rapide veränderte – und genau darin liegt auch die historische Bedeutung von ´Congregation´. Das dritte Album von AFGHAN WHIGS erschien vier Monate nach ´Nevermind´ von NIRVANA. Während Kurt Cobain den Mainstream für Grunge öffnete, zeigten THE AFGHAN WHIGS mit ´Congregation´, was Alternative Rock noch sein konnte: dramatisch, sexy, verletzlich, funky und völlig unberechenbar. In Songs wie ´Let Me Lie To You´ oder ´This Is My Confession´ spürt man zwar schon den späteren Perfektionismus des Nachfolgewerkes ´Gentlemen´, doch grundsätzlich wirkt alles noch roher, kompromissloser.
Dabei blieb der Einfluss von ´Congregation´ nicht auf die Band selbst beschränkt. Der Sound und die Thematik zogen ihre Kreise. Bei Bands wie DISHWALLA oder LIVE ließen sich später ähnliche Ansätze finden. Doch diese übernahmen die Formel oft glatter, braver und ohne Greg Dullis Schärfe. ´Congregation´ dagegen bleibt einzigartig. Kein anderes Album verbindet diese rohe Emotionalität, das Drama, die sexuelle Aufladung und die musikalische Offenheit auf so glaubwürdige Weise. Es ist eine Art Bastardkind aus Mr. Alternative Rock und Mrs. Soul, das ausgerechnet im Umfeld von “Sub Pop” das Licht der Welt erblickte – und bis heute als vielleicht unterbewertestes Meisterwerk der frühen 90er gelten darf. In den Grunge-Kanon von “Sub Pop” hatten THE AFGHAN WHIGS ohnehin nie richtig gepasst. Nicht nur, weil sie aus Cincinnati kamen und nicht aus Seattle, sondern weil sie andere musikalische Wurzeln hatten.
Vielleicht ist es gerade deshalb eine Platte für alle, die bei Prince das Gitarren-Solo vermisst haben, bei HÜSKER DÜ den Groove und bei Marvin Gaye die Schuldgefühle.
Denn obwohl ihr viertes Album ´Gentlemen´ als das kohärentere und reifere Werk gilt, bleibt sein Vorgänger ´Congregation´ das originellste und gefährlichste Album der AFGHAN WHIGS. Während es seinen Signature-Sound ausbreitet, ist es noch rau, dreckig, erotisch sowie voller Widersprüche.
Es ist eine Rockplatte, die sich nicht zwischen Liebeslied und Beichte entscheiden muss, sondern beides gleichzeitig ist. Ein echtes Meisterwerk – und die Geburt des gefährlichsten Crooners der 90er. Ein echtes Unikat – nie repliziert, nie wieder erreicht.
Und dann das Vinyl-Reissue von 2017. Endlich als 45 RPM Doppel-LP zu haben, auf 180g Transparent-Red-Vinyl – audiophil, aber nicht steril. Das Gatefold gewöhnlich, keine Lyrik, doch der Klang satt, warm und differenziert. Wer der farbigen Version misstraut, sollte zur schwarzen greifen. Der Mix klingt offen, klar und voll. Endlich hat das Album den Platz, den es verdient: doppelt so viel Fläche, doppelt so viel Detail.
(Klassiker)
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