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BILL CALLAHAN – YTILAER

~ 2022 (Drag City) – Stil: Folk/Gothic Country/Lo-Fi/Experimental ~


Traditionell wurden Volksmärchen verwendet, um Weisheiten weiterzugeben und Mythen zu erschaffen, die unsere gemeinsame Geschichte ansprechen, auch wenn sie natürlich stets von den Ansichten und Einstellungen ihres Erzählers geprägt sind. Sie befassen sich mit unserem Bewusstsein und unserem Platz in der Welt um uns herum, und als solche werden sie oft von Reflexionen unterschiedlicher sozialer Konstellationen, von politischen Neigungen und moralischen Launen beeinflusst – das Gleiche gilt auch für die meisten Alben von Bill Callahan.

´YTILAER´ („Reality“ rückwärts geschrieben) ist die nun neueste Ergänzung der Anthologie an Alben, die Callahan in den letzten zwei Jahrzehnten sowohl unter seinem eigenen Namen als auch mit seinem früheren Projekt SMOG gesammelt hat. „Wir kommen aus unseren Träumen, während wir zu Träumen zurückkehren“, singt er im Eröffnungssong, und dokumentiert damit unmittelbar sein gestörtes Verhältnis zu einer aus seiner Sicht gänzlich verzerrt wirkenden Realität.

Callahans Werke waren jedenfalls schon immer Spiegel unserer Zeit und nutzten eine seltsame und traumhafte Bildsprache inmitten seines Lo-Fi-Schutts als Kanal für unseren eigenen Prozess der emotionalen und sozialen Akklimatisierung.

 

 

Die Noten seiner Gitarre wandern und taumeln nun auch auf ´YTILAER´ zwischen Gesangsharmonien und seltsamen rhythmischen Schnörkeln, und Allegorien sind ebenfalls wiederum im Überfluss vorhanden. Auf ´Partition´ beispielsweise singt er von „großen Schweinen in einem Haufen von Scheiße und Knochen“, während Orgellinien durch hüpfende jazzige Percussion laufen und stolpern, und der pochende Bass wirkt wie ein sich wiederholender Herzschlag, der die Zeit im Auge behält. ´Lily´ hingegen ist eine Geschichte über Sterblichkeit und familiäre Bindungen, und seine Stimme fühlt sich unangenehm nah an, als würden wir in einen privaten Moment eingreifen, der nur für ihn bestimmt ist. Fetzen von E-Gitarren purzeln herum, während strenge Töne auf einer Akustikgitarre gezupft werden.

Das Album schlängelt sich durch Stimmungen, von melancholisch bis turbulent, sanft und leicht, und die Songs brauchen oftmals einiges an Zeit, um ihre wahre Natur zu enthüllen. ´Naked Souls´ etwa beginnt als sanfte Jazz-Ballade auf dem Klavier und wächst allmählich, wenn schließlich weitere Instrumente hinzukommen, um das Stück zunehmend explosiver werden zu lassen.

In Bezug auf seine jüngsten Alben wurde viel über Reifung gesprochen, was auch durchaus Sinn hat, da Callahan gerade erst 56 Jahre alt wurde, und dieses spezielle Label führt meist auch zu einer Verdichtung der wahrgenommenen emotionalen Reichweite, die ein bestimmter Künstler auszudrücken vermag.

´YTILAER´ ist eine neue Sammlung von Mythen, mit einem oftmals heftigen und verzerrenden Blick auf die schrecklichen und fröhlichen Dinge, die sich uns in der aktuellen Zeit bieten – und diese Geschichten werden in einer ganz eigenen Perspektive dargestellt, einer Mischung aus flüchtiger Bewunderung, gemessener Wut, garstiger Bosheit und aus der Liebe zu den Wundern der Natur.

(8 Punkte)

https://www.facebook.com/bathyspheral


Pic: Hanly Banks-Callahan