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ALCATRAZZ – V

~ 2021 (Silver Lining Music) – Stil: Heavy Metal ~


Es ist noch nicht allzu lang her, als ich an dieser Stelle das Comeback-Album ´Born Innocent´ besprechen durfte. Meine realistische Einstellung dazu hat sich für mich bestätigt. Ich kann mich schlicht und einfach gesagt an keinen Song des Vorgängers erinnern.

Mit ´V´, das sowohl für die Zahl 5 und für Victory stehen mag, dürfte es anders ausgehen. Der Ausstieg des wirklich starken Graham Bonnet wurde mit Doogie White (hier muss man eher nicht aufzählen, wo er schon überall aktiv war) mehr als gelungen wettgemacht. Die wichtigste Veränderung ist aber, auf den Einsatz von Gastgitarristen wurde verzichtet. So kann Joe Stump dem fünften Album der Gitarristenschmiede seinen eigenen Stempel aufdrücken. Natürlich gibt es, etwa mit ´Target´, die Anklänge an Herrn Malmsteen. Das gehört bei ALCATRAZZ ganz sicher zum guten Ton. Schließlich ist das die Band, die den Helden an den sechs Saiten erst so richtig groß gemacht hat.

Andererseits hat ´Maybe Tomorrow´ mächtig viel von epischen RAINBOW. Und ja, der Chor hinterlässt ein breites Grinsen, das „Ohoho“ hat irgendwie einen leichten Schlag mit einem Hammer bekommen. Mit ´House Of Lies´ wird an die späteren RAINBOW  zu Zeiten von ´All Night Long´ erinnert. Das heavy rockende und herrlich schräge ´Alice’s Eyes´ hat etwas von einer Hommage an den gleichnamigen Rocker, dessen Karriere so einige Tiefs überwunden hat und der heute fast noch stärker da steht als je zuvor. Für Liebhaber etwas getragenerer Töne steht am Ende dann die melancholische Powerballade ´Dark Day For My Soul´. Einzig ´Blackheart´ erscheint mir ein wenig kitschig. Da sind wohl die Piraten durchgegangen.

Ich bin ehrlich, nach dem Vorgänger bin ich nicht so ganz unvoreingenommen an ´V´ herangegangen. Aber ALCATRAZZ haben hier ihre Stärken gebündelt und ´Born Innocent´ locker überboten. Also ein Sieg auf ganzer Linie.

(9 Punkte)

Mario Wolski

 

 

Es beginnt, als wären wir per Zeitmaschine in die 80er Jahre gebeamt, als Graham Bonnet mit dem schwedischen Flitzefinger Yngwie Malmsteen schon von seinem bevorstehenden Abgang sang: ´Too Young To Die, Too Drunk Too Live´. Nun, ganz so frisch kommt der Opener ´Guardian Angel´ nicht rüber, aber Graham ist auch nicht mehr mit dabei und Yngwie schon gar nicht. Und Steve Vai natürlich auch nicht. Auf dem 2020 veröffentlichten ´Born Innocent´ war Graham Bonnet noch Teil der Band, jetzt ist Doogie White der Sänger. Man konnte sich nicht auf den Manager einigen. So ein Scheiß.

ALCATRAZZ ohne Graham Bonnet, geht das? Nun Doogie White ist ehrlicherweise ein ganz ordentlicher Graham-Klon. Er kann den Meister natürlich nie wirklich erreichen und ersetzen, es klingt aber trotzdem schwer nach ALCATRAZZ. Jimmy Waldo und Gary Shea sind immerhin noch von der Originalbesetzung dabei. Und Doogie singt hier deutlich songdienlicher als bei den meisten seiner anderen Veröffentlichungen. Und er war schon bei RAINBOW und bei Yngwie mit dabei. Das muss ja für den Job qualifizieren, oder nicht?

Nicht mehr ganz neu ist Gitarrero und Oberposer Joe Stump, den sah ich schon mit Graham Bonnet im Prä-Corona-Konzert 2019 live. Er spielt und schreddert die Tonleitern wie einst Yngwie rauf und runter. Nur die Chöre im Hintergrund klingen irgendwie anders als früher.

´Nightwatch´ heißt nicht nur wie der Horrorfilm, sondern beginnt auch gothicmäßig. Aber dann übernimmt der bewährte ALCATRAZZ Sound wieder die Regie. Die Explosivität von Graham fehlt etwas, trotzdem klingt Doogie verdächtig nach dem Meister aller Klassen.

´Sword Of Deliverance´ ist ein einwandfreier Riffrocker. Stark, am Schluss etwas schwächelnd. ´Turn Of The Wheel´ wechselt zwischen treibend und getragen. Die nächsten Songs sind okay, aber nicht unbedingt besonders aufregend. Mit ´Nevermore´, einer Mischung aus RAINBOW und ´Heaven And Hell´-SABBATH, kommt wieder ein stärkerer Titel mit düsteren Chören und explosivem Gitarrensolo zum Zuge. ´Target´ ist wieder 100% Yngwie ALCATRAZZ. Na ja, bei sich selber darf man ja klauen, ist ja keine wissenschaftliche Arbeit.

Dann geht´s allerdings mit der Songqualität eher schnell abwärts, und das führt zu Punktabzügen. ´House Of Lies´ und ´Alice´s Eyes´ sind nur Durchschnitt. Die Schmachtballade ´Dark Days Of My Soul´ kann den zweiten Teil auch nicht mehr retten, so schmalzig hätte Graham jetzt nicht agiert.

Insgesamt bietet ´V´ schon das, was man als ALCATRAZZ-Junkie irgendwie brauchen kann oder könnte. Ich bin aber eigentlich schon nach dem göttlichen ´Disturbing The Peace´ mit Steve Vai ausgestiegen.

Graham Bonnet, auch schon 73jährig, plant im Übrigen als Graham Bonnet´s ALCATRAZZ mit ex-NEVERMORE und ARCH ENEMY-Gitarrist Jeff Loomis eine eigene Veröffentlichung. Mal abwarten.

(6,75 Punkte)

Harald Pfeiffer

 

https://www.facebook.com/alcatrazzband


Pic: Alex Solca