Livehaftig

ROADBURN FESTIVAL 2019

~ 11.-14. April 2019, Tilburg, Niederlande ~


R O A D B U R N.

Ein Name wie ein Brandzeichen auf dem blastgegerbten Trommelfell, eine tiefschwarze Gotteslästerung, eine Expedition zum Rande des Hörbaren, eine dahingehauchte, zarte Poesie, ein vielfacher, unendlicher Nachhall aus dem tiefsten Sludgesumpf, eine Ikone des Extremmetal-Undergrounds, und eine Legende von einem Festival seit mehr als zwanzig Jahren.
Doch die bekannten grossen Namen sind bei weitem nicht alles. Noch viel mehr „Roadburn“ sind die vielen anderen Projekte, denen gerade wegen ihrer Zerbrechlichkeit, Verträumtheit oder einfacher Schlichtheit hier viel Platz und Beachtung geschenkt wird. Roadburn ist mehr ´Lifesblood For The Downtrodden´ als ´Obsessed By Cruelty´, mehr ´Expect The Unexpected´ als ´Darkness Within´ und mehr ´Je Suis D’Ailleurs´als ´Conquer All´.
Geboren aus einem Musikblog, veranstaltet von fast schon als besessen zu bezeichnenden Fans der doomigen und generell härteren Gangarten inklusive ihrer stilistischen Nachkommen und Sidekicks, fest gebaut auf der Unterstützung unzähliger freiwilliger Helfer und dem Grundsatz der künstlerischen Freiheit, dem Entdecken neuer Klänge, der Gemeinschaft, Vielfalt und Inklusion.
Und das alles in den entspannten Niederlanden – Metalherz, was willst Du mehr?

 

Doch vor der ersten oder wiederholten Reise zum „Planet Roadburn“ stehen unabdingliche Vorbereitungen. Unterkunftssuche ist nur ein Teil davon, gibt sich die Stadt Tilburg dem Ansturm der über 4.000 doch mehr als gastfreundlich (siehe hier auch das Fazit von Werner, der den festivaleigenen Campingplatz sehr zu schätzen gelernt hat, ganz am Schluss unserer Ausführungen), es ist für jeden Bedarf und Geldbeutel etwas geboten, und da RB auf Gemeinschaft baut, findet auch der Spätentschlossene noch irgendwo Unterschlupf bei Gleichgesinnten. Nicht nur hierfür empfiehlt sich die sehr lebendige Facebookgruppe #Roadburners.


Das eigentliche Thema, welches alle Besucher in den Monaten zuvor beschäftigt, ist jedoch das Programm. Es ist schier grenzenlos, allein 110 Auftritte auf den fünf Hauptbühnen enthielt diesmal der zuvor veröffentlichte Überblick, im Laufe des Festivals werden spontan noch weitere, später als legendär zu bezeichnende hinzukommen im als ad hoc-Bühne genutzten Skatepark, wo es gar keine Trennung mehr zwischen Band und Publikum gibt. Hier spielen Bands zusätzliche oder kollaborative Sondershows, von denen man entweder per Facebook oder App erfährt, oder eben ganz zufällig auf dem Weg irgendwo hin hineingerät…

Man kommt also nicht umhin, sich im Vorhinein einige Gedanken darüber zu machen, was man sehen möchte. Und dann diese ganzen Bands, von denen man noch nicht einmal die Namen kennt! Völlig normal, ja geradezu gewollt hier, beruhigen die RB-Veteranen, und raten Anfängern wie mir dazu, immer noch genügend Freiraum zu lassen für ganz neue, unbekannte Banderlebnisse, denn gerade diese sind es doch meist, die den grössten Eindruck hinterlassen. Auch wenn die Venues nicht wirklich weit voneinander in der Tilburger Innenstadt liegen, Laufzeiten hat man trotzdem, und manche Räume erfordern ob ihrer geringen Kapazität ein frühes dort Aufschlagen.

Und wir haben noch nicht einmal vom “Side Programme” gesprochen! Ausstellungen, Live Interviews, Paneldiskussionen, Einblicke hinter die Kulissen der Musikindustrie, Listening Sessions, dazu die diversen Afterparties – hätte der Tag doch nur mehr als 24 Stunden…

 

Das Gesamtprogramm wird weiterhin durch den jährlichen „Artist in Residence“ (2019 die US-Sludger THOU) sowie einen Kurator, der einen eigenen Programmpart gestaltet (diesmal Tomas Lindberg von AT THE GATES mit „The Burning Darkness“, siehe hierzu Marcus’ AT THE GATES-Beitrag am Freitag) und Labelspecials (u.a. Holy Roar und am Samstag „20 Jahre Exile On Mainstream“, siehe auch CONNY OCHS und BELLROPE) abgerundet.

 

 

Für mein erstes RB-Erlebnis habe ich mich vor allem auf die neue „Commissioned Music“-Reihe fokussiert, was sich allein schon aus meiner Begeisterung für die CELTIC FROST / TRIPTYKON-Requiem-Uraufführung mit dem METROPOL ORKEST und KOBRA ENSEMBLE ergab, wovon ich hier bereits ausführlich berichtet habe. MOLASSES, entstanden aus der Asche von THE DEVIL’S BLOOD, ist eine weitere „Auftragsband“ des künstlerischen Direktors Walter Hoeijmakers, und das ´MAALSTROOM´-Projekt aus vielen Mitgliedern junger niederländischer Black Metal-Bands schliesslich der dritte diesjährige Pfeiler. Damit war für mich auch schon ein gewisser Schwerpunkt auf niederländische Künstler gelegt, auch wenn ich in dieser Hinsicht noch viele andere Bands hätte sehen können – wenn Zeit dazu gewesen wäre. Doch das ist etwas, was einem beim RB extrem vor Augen geführt wird: Zeit ist endlich und begrenzt, und eine Person kann sich bislang glücklicherweise nur an einem Ort zu einem gegebenen Zeitpunkt aufhalten. Wie Nergal hier bemerkte, ist es sowieso unmöglich, mehr als zwei Bands pro Tag wirklich zu verdauen. Und Hektik steht dem wahren Musikgenuss sowieso entgegen. Warum das Roadburn daher nicht mal für etwas persönliche Entschleunigung nutzen? Voilà!:

 

Welcome to Sonic Wonderland!

 


Donnerstag, 11.04.2019

 

CRIPPLED BLACK PHOENIX

Nach der in Rekordzeit hochprofessionell abgehandelten Bändchenschlange und dem perfekten Treffen mit der mich auch bei diesem Bericht unterstützenden saarländischen Reisegruppe beginnt mein Roadburn-Erlebnis nun endlich in der Koepelhall. Doch – bin ich noch zu aufgedreht von der langen Fahrt, oder liegt es daran, dass es vor den Fenstern noch taghell ist, irgendwie komme ich nicht zur nötigen Ruhe, um diesen Gig richtig geniessen zu können. Herunterkommen funktioniert eben doch nicht auf Knopfdruck, vielleicht hätte mir eine brutale Black Metal-Vollbedienung deutlicher klargemacht, dass ich angekommen bin, den vielen anderen in dem riesigen Raum scheint es jedoch zu gefallen. Merkheft: nächstes Mal evtl. schon nen Tag früher für die „Ignition“ gennante Pre-Party anreisen!

 


MOLASSES

Ich muss sagen, ich bin entgegen meiner sonstigen Art völlig recherchefrei, ganz entspannt und offen an MOLASSES herangegangen. Natürlich habe ich mich über die Ankündigung des Auftritts auf der Festival-Webseite riesig gefreut und war mächtig gespannt, was uns da wohl erwarten mag, aber ich ging von einem einmaligen Auftritt im Rahmen der „Commissioned Music“-Reihe aus, der genauso wie das „Requiem“ von der Stadt Tilburg und dem Kulturförderfonds Brabant C kofinanziert wurde, aber eben einmalig bleiben würde. Ja von wegen!

Und so stehe ich Donnerstag Nachmittag in einem passenderweise WATAIN(!!!)-blutverspritzten ULTHA-Shirt vor der Main Stage und bin gleichzeitig fassungslos und zutiefst berührt von dem, was da von sieben offensichtlich sehr miteinander vertrauten Individuen aufgebaut wird an Schönheit und Energie. Ja, auch Trauer, aber auf eine sehr sublimierte Weise. Farida wieder singen zu hören, lebendig auf einer Bühne erleben zu dürfen treibt mir die ersten Tränen dieses Festivals in die Augen und konstante Schauer über den Rücken. Ein Konzertgefühl wie eine Heimkehr, und das alles komplett überraschend – wie oft hat man diese Gnade? Ganz neue und jedermann ausser den Akteuren auf der Bühne völlig unbekannte Musik, und doch schwingt sich ein jeder sofort darauf ein und groovt mit, denn diese Energie lässt hier keinen unberührt. Mir wird klar, dass ich jetzt zum ersten Mal genau DAS Roadburn-Gefühl erleben darf, das dieses Festival aus- und so einzigartig macht: die Offenheit aller Beteiligten für Neues, für Anderes, bisher Ungehörtes, der Wunsch, eine Plattform für überbordende Kreativität zur Verfügung zu stellen und sich dann überraschen zu lassen von den unglaublich intensiven Ergebnissen hiervon. Es ist tatsächlich so, das Publikum trägt die Band durch ihren kompletten Auftritt, jeder ist miteinbezogen, und das macht die eigentliche Roadburn-Magie aus. Ein Traum oder ein Wahnsinn? Beides!!

Und musikalisch? Wird eine magische Mischung aus Occult- wie Classic Rock, gewürzt mit etwas Psychedelia und vielen sehr luftigen, jazzig-bluesigen Ausflügen in die Improvisation geboten – eine Art Zeitsprung zurück in die 70er, was vor allem auch der Fender Rhodes von Matthijs Stronks zu verdanken ist. Die Band agiert hochprofessionell auf der grossen Bühne, Farida glänzt ausser mit ihrer kraftvollen Stimme mit einem das MOLASSES-Artwork widerspiegelnden Kleid, und Ron van Herpen bearbeitet seine Gitarren teilweise auf einem Pult vor sich liegend. Es ist jederzeit deutlich, dass hier absolute Soundtüftler unterwegs sind, doch ist die Musik völlig schlüssig und eingängig, und lädt extrem zum Mitgehen, Swingen und Tanzen ein. Viel zu schnell ist die eine Stunde vorbei, und zum ersten Mal stehen wir sprachlos und glückseelig zusammen, als die Lichter langsam wieder angehen. Ja, ich bin endgültig angekommen auf Planet Roadburn! Jetzt kann die Reise so richtig losgehen…

Immer noch tief begeistert in meiner Naivität versunken, lese ich dann am folgenden Morgen in unserem Streetclip-internen Neuigkeitenchat, dass die Band sehr wohl eine echte solche und kein Projekt ist, es auch bleiben wird, und es sogar schon eine Platte (und mittlerweile auch eine Kritik dazu) gibt – pünktlich am Tag nach dem Auftritt veröffentlicht. Wow. Roadburn schreibt Geschichte(n)…!

 

SLÆGT

Die jungen Wilden aus Kopenhagen sind im Rahmen von Tomas Lindbergs „The Burning Darkness“-Reihe ins Het Patronaat eingeladen worden, und ich kenne zwar nicht ihr Programm auf der darauffolgenden Tour mit KETZER, ihr RB-Auftritt ist jedoch nichts anderes als eine metallisch-strahlende Walze der Zerstörung, für die sie zum einen nur ihre härtesten Songs seit ´Beautiful And Damned´ bis hin zur abschliessenden neuen Single ´Black Bombs´ausgesucht haben, zum anderen mit ihrer ungebremsten Energie und purer Geschwindigkeit alle hier im (un)heiligen Kirchenraum einfach nur an die Wand blasen. Highspeed blackened Heavy Metal rules! Sie steigen ein mit ´Perfume And Steel´, gehen zurück bis zu ´Move In Chaos´, um gleich danach eine messerscharfe, hochgedrehte ´Citrinitas´-Version abzuliefern, bei deren Twingitarrenteil Oskar und vor allem Anders ein spektakuläres Posing auf die Bretter legen.

Letzterer gibt sich schon vom Äusseren wie der kleine Bruder von Jonathan Hultén, und versucht dem TRIBULATION-Gitarristen auch am Instrument das Wasser zu reichen. Die Band spielt sowas von tight auf, der Sound ist perfekt, überall sehe ich nur noch offen stehende Münder vor Verzückung – der pure Wahnsinn! Neu-Drummer Anders Edalis gönnt seinen Mitspielern keine Sekunde der Erholung, Oskar legt mit stolzem, bösem Blick seinen Gitarrenhals auf das Publikum an, nur um das nächste Riff patronengleich abzufeuern, Olle kam schon mit blossem Oberkörper auf die Bühne, um sich von der Lightshow umschmeicheln zu lassen, ja, weder an Spielfreude noch Selbstbewusstsein mangelt es den jungen Wilden, und bei ´I Smell Blood´ wird schliesslich auch im Kirchenschiff kräftig mitgesungen. Das war kein Auftritt, das war eine Machtdemonstration einer Band, die baldigst ganz oben mitspielen wird, weil sie wie wenige sonst den Extremmetaller mit dem klassischen Metalfan unter ein Dach bekommt. „Show me how to kill my gods“ – Jungs, das wisst ihr doch schon lange selbst am besten…Chapeau zu diesem unfassbar geilen Statement von Ars… aeh, Auftritt!

 

Damit ist mein heutiger Bedarf an Metal erstmal gedeckt, ich fühle mich geerdet und überrollt zugleich, kraxel die steilen Stiegen herunter, um draussen erst einmal gaaaanz tief Luft zu holen. Was für ein grenzgenialer Abriss das war! Der muss nun erst mal sacken, daher beschliesse ich mir ein bisschen die Beine zu vertreten und endlich mein Hotelzimmer zu beziehen.

Wir sehen uns bei HEILUNG wieder! Die kommen zwar zu einem Gutteil auch aus Dänemark, sind jedoch so was wie der krasseste Gegensatz zu SLÆGT, den man sich nur vorstellen kann. Bis später!

 

HEILUNG

„Amplified History“. Schon mal gehört? Oder irgendeine Vorstellung davon, was das bedeuten könnte? Falls nicht, kann Euch nur ein HEILUNG-Auftritt helfen! Lasst Euch einfach mal berichten, wie es mir ging, und entscheidet dann, ob das auch etwas für Euch sein könnte…

Ich komme, da zu spät, zur Main Stage gar nicht mehr herein, und versuche es daher oben auf der ebenso vollen, aber noch zugänglichen Empore, und erkenne von weitem auf der grün-braun-weiss beleuchteten Bühne mehrere Gestalten in ähnlichen Sack-und-Asche-Farben, wie ich sie hier auf keinen Fall erwartet hätte, eher in einem Fantasyfilm oder noch besser auf einem Mittelaltermarkt: barfuß, in Felle, Leder und selbstgewebtes Leinen gewandt, mit allerlei Naturmaterialien geschmückt, die Sängerin trägt gar ein Hirschgeweih auf dem Kopf. Mal steht nur eine Handvoll Leute auf der Bühne, dann kommt je nach Notwendigkeit eines Chores ein Trupp Krieger mit aschegeschwärzten Gesichtern, Speeren und Schildern dazu.

Alle Akteure stampfen und klatschen, schlagen in monotonem Rhythmus auf Rahmentrommeln oder gar Knochen gegeneinander, für konsequente Veganer ist das hier mal gar nichts, baut aber eine mächtige und augenblicklich gefangen nehmende hypnotische Stimmung auf. Dazu trägt auch die ätherische Stimme der ganz in weiss gekleideten, elfengleichen Sängerin bei, der Sänger verblüfft dagegen damit, nicht nur zwischen Sing- und Kehlkopfstimme enorm schnell hin- und herzuwechseln, sondern kann im Kehlkopfmodus auch beschwörend sprechen, was einen ganz eigenen Reiz hat, ausserdem tanzt er wie ein Medizinmann am Bühnenrand herum. Dieser Song jetzt beschert mir wieder einmal Gänsehaut und ich werde später lernen, dass er ´Krigsgaldr´ heisst.

So voll wie die Bühne ist, erkenne ich erst nach einer Weile, dass es dort auch Menschen an Keyboards und anderen elektronischen Instrumenten sowie diversen Standtrommeln gibt, was den gigantischen Sound erklärt – das also zum Baustein „amplified“. „History“ ist selbsterklärend, und zwar handelt es sich hier um nordeuropäische Geschichte der Eisen- und Wikingerzeit, und neben mir dreht gerade eine Gruppe Südamerikaner völlig durch, als sie einen neuen Liedanfang anhand der nachgesungenen Tierstimmen erkennen (´Alfadhirhaiti´) – sie tanzen wie in Ekstase, mit geschlossenen Augen und in totaler Verzückung winden sie sich zu den einfachen, kaum variierten Klängen über einem coolen Dancebeat, und singen sogar die nordischen Texte mit! Ich bin platt und begeistert, denn diese Monotonie der Rhythmen hat ganz offensichtlich in allen Kulturen dieselbe Wirkung, nämlich Gemeinschaft herzustellen, sich auf sie und sich selbst zu konzentrieren und sich in Trance zu tanzen. Wahnsinn! Das muss ich mir von Nahem anschauen, und so kämpfe ich mich doch noch vor die Bühne. Auch hier unten ist das Publikum wogend in Bewegung und feiert jeden neuen Song jubelnd ab. Von hier aus sieht man, wie detailverliebt die Ausstattung der Gewänder und Masken teilweise ist, und was es noch so alles an Glöckchen und Geweihen auf der Bühne gibt. Ich lasse mich ebenfalls mitreissen und denke nur noch – Wahnsinn, und das ist erst der erste Tag!


TWIN TEMPLE

Was für ein Kontrastprogramm! Aus dem europäischen Mittelalter in die US-amerikanischen 50er Jahre…Ja, denn auch das ist Roadburn: ein amerikanisches Satanistenpärchen lebt seine entsprechenden Phantasien in einer Musikrichtung aus, für die noch nicht mal der Begriff „Retro“ greift, so weit zurück in der Zeit gehen wir mit ihnen, noch weit vor die Ära der ersten Beat- oder Rockbands. Metal-Trvenessfaktor also gleich Null. Aber das schert in Tilburg ja glücklicherweise eh keinen.

Das Ehepaar James erweist sich – stilecht im Het Patronaat – als absolute Meister der dramatischen, bis ins kleinste Detail durchdachten Selbstinszenierung, und so umrahmen sie die acht Songs ihres Debüts mit den beiden Instrumentals ´In LUX` bzw. ´In NOX´, bei denen uns die stilecht in Anzug und Hut gekleidete Band aus Schlagzeug, Bass, Orgel und Saxophon mit einer Melange aus Bebop und Rock’n’Roll unterhält, solange sich die Herrschaften in privaten Ritualen backstage verweilen. Stehen sie jedoch auf der Bühne, ist alle Aufmerksamkeit auf Alexandra gerichtet, die mit ihrer so schmeichelnd-samtweichen bis kraftvoll-croonenden Stimme das feministische Schmusekätzchen, das ganz unübersehbar die Hotpants und Stiefel anhat, gibt. Ihr schlaksiger Mann Zachary ist der Bandleader ohne Gemütsbewegung, weder beim Weihwasserschwenken noch während eines Gitarrensolos lässt er sich anmerken, ob ihn das alles nur anödet oder er nur ein besonders schwerer Fall von Asperger ist.

Das Publikum darf das ´Satanic (hier ja nicht Self…) Initiation Ritual´ mitsprechen, und ein von der Chefin Auserkorener wird auf die Bühne geholt, seine Augen verbunden, etwas satanischer Hokuspokus mit Blut auf der Stirn, und nun ist er möglichweise Mitglied des bandeigenen Covens –  doch Moment, seine Kreditkarte hat er gar nicht vorzeigen müssen, und was soll’s, lass sie doch an ihrem Konzept gut verdienen, sie sind ausgesprochen unterhaltsam, haben tolle, eingängige Songs, zu denen manche hier sogar ein Tänzchen auf den Kirchenboden legen, und Amy-Lookalike Alexandra wiederum hat uns Zuhörer komplett in der schwarz belederten Hand. Ob Americana wie ´I’m Wicked` oder Mariachi wie in ´Santa Muerte´ und ´I Know How To Hex You´, sie beherrscht (oder besser – befraut?) all die leicht anachronistischen Genres und haucht Ihnen aus ihrem Blutkelch neues Leben ein. Und so gefällt mir der Abschluss mit einem Rhesus-gemischten französischen Kuss des Pärchens besonders gut, wirkt selbst Zachary nun nicht mehr ganz so blutleer wie zuvor.

 

MONO AND THE JO QUAIL QUARTET

Und noch einmal am heutigen Tag ein Clash of Cultures – von den plakativen US-Teufelsanbetern zu den introvertierten japanischen Sitzgitarristen, mir fehlen die Worte, diesen Gegensatz auch nur einigermassen überbrückend zu umschreiben. Schon die Stimmung in der Main Stage ist eine komplett andere, hier wird nicht mitgeswingt, sondern andächtig verfolgt, wie sich zwischen den japanischen Instrumental-Post-Rockern und dem Streicherquartett eine ständig changierende, fliessende Magie entwickelt, als sie ihr zwanzigjähriges Bandjubiläum gleichzeitig mit zehn Jahren ihres hochemotionalen Magnum Opus ´Hymn To The Immortal Wind´ feiern. Ebenfalls eingeladen im Rahmen von „The Burning Darkness“ und doch komplett konträr zu SLAEGTs Metallattacke, entführen MONO uns in die Tiefen der Seele, und beschliessen damit auf schönste Weise einen Tag voller gänzlich unterschiedlicher Highlights. Hier kann man wunderbar zur Ruhe und zu sich selbst zurückkommen und in einem Ozean von Harmonien dahinfloaten. Oder sich am neuen Schlagwerker Dahm Majuri Cipolla ergötzen, der die Band mit sicheren Händen führt.

Im Gegensatz zum kompletten Orchester der Plattenaufnahme, macht das JO QUAIL QUARTET diese Anbrandung von melancholischen bis cinematographischen Klängen wesentlich intimer und wärmer, und unterstützt die an- und abschwellenden Dynamiken des Konzeptalbums, das von der Band wiederum wesentlich rockiger gebracht wird. Beim abschliessenden ´Everlasting Light` hält es dann auch Taka und Yoda nicht mehr auf ihren Hockern, und sie beschliessen ein grossartiges Konzert im Stehen, um anschliessend ebensolche Ovationen entgegenzunehmen.

Wow! Was für eine Erfahrung in nur wenigen Stunden. Wie sollen all diese Eindrücke bloss verarbeitet werden, wenn es morgen schon weitergeht? Noch schnell ein Fussbad vorm Schlafengehen mit der Lektüre des täglichen Fanzines „Weirdo Canyon Dispatch“, und auf ins Traumland. Denn der Freitag wirft gaaaanz grosse Schatten voraus!

 

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Freitag, 12.04.2019


GOLD

stellen heute zum ersten Mal ihr brandneues Album vor, und das im kleinen Patronaat, da waren die Schlangen vor dem Eintritt eigentlich vorherzusehen, doch so schlimm hatte ich’s mir dann doch nicht vorgestellt. Und da mir heute wenig wichtiger als ein Platz in der ersten Reihe beim bereits mehrfach erwähnten REQUIEM ist, bleiben mir nicht mal eine Handvoll Songs zwischen reinkommen und wieder gehen müssen. Von echtem Konzerterlebnis kann daher keine Rede sein, jedoch der Eindruck, dass die Lokalmatadore live doch deutlich mehr auf den Putz hauen als auf der neuen Scheibe.

Ich verabschiede mich also schnell wieder Richtung Main Stage im gegenüber liegenden Poppodium, tauche tief in die vertonte Gefühlswelt eines Thomas Gabriel Fischer ein, und komme danach fast den gesamten Tag nicht mehr so recht an die Oberfläche. Beides, Aufführung wie das ein paar Stunden später dazu geführte öffentliche Interview wurde ja bereits in einem eigenen Artikel hier besprochen. Eigentlich war mein Tag damit auch fast komplett ausgefüllt, und die meisten Bands hatten gegen diesen Ansturm an Gefühlen keinerlei Chance, denn so ein einmaliges und aufwühlendes Ereignis braucht einiges an Zeit, um im Herzen anzukommen und von der Seele verarbeitet zu werden. Daher war für mich heute eher Flanieren und mit Leuten quatschen angesagt, und es gibt einiges an Bildern, aber nur kurze Kommentare zu diversen Bands. Doch ein persönliches Highlight steht heute noch bevor, denn seit Jahren freue ich mich darauf, MESSA endlich live zu erleben, und gerade beim Roadburn klappt es endlich! Zur Abendmesse daher später mehr…

 

ANNA VON HAUSWOLFF

Den ersten Kontakt mit AVH, damals Solo unterwegs, hatte ich im Vorprogramm von SWANS in Wiesbaden. Recht angetan von ihrer Stimme hab ich mir kurz danach auch zwei ihrer Tonträger zugelegt, und dementsprechend happy stimmte mich auch ihre Bestätigung fürs Roadburn. Da stand ich nun mit meinem Gin Tonic bewaffnet in der Hand, dachte noch drüber nach ob eben dieser mit Zitrone oder Gurke die grössere Bereicherung der Menschheit dastellt , während auf der Bühne noch fleissig aufgebaut wurde und man hinterm Keybord die zierliche Silhouette von Anna ausmachen konnte.

Lichter aus und los gings. Was dann auf der Bühne losgetreten wurde hatte ich so nicht erwartet, das Ganze überrollte einen einfach „Larger Than Life“-mässig und hatte mit den Klängen von Konserve irgendwie nicht mehr viel zutun. Die ganze Darbietung entwickelte sich von atmosphärisch getragen mit sanften Gesang über einen groovenden Mittelteil, bei dem die junge Schwedin auf ihrem Podest langsam zu tanzen anfing, was irgendwie selbst mich zum rumgrooven animierte (tanzen wäre übertrieben, kenne schliesslich die Travolta-Filme und damit haben meine Bewegungen rein gar nix zu tun) zur ner schieren Soundwand mit schrillen Schreien unterlegt. Der Unterschied zwischen AVH live und auf Platte lässt sich mit vier Worten beschreiben: Panzer Division KATE BUSH!
Während ich ja noch auf der Fahrt zum Roadburn überlegte, ob mich wohl dieses Jahr etwas so flashen könnte wie der letztjährige Auftritt von CULT OF LUNA mit JULIE CHRISTMASS, bekam ich hier gerade Freitags schon die Antwort geliefert. Ein dickes Ja und Daumen hoch für ANNA VON HAUSSWOLFF und ihre Band, das war einfach gigantisch! Könnt ich mir morgen gerade wieder geben.

(Werner Gessner)

 

AT THE GATES

Tomas Lindberg, Mastermind der schwedischen Death Metal Pioniere AT THE GATES, war der Kurator des diesjährigen ROADBURN Festivals. In seiner Reihe „The Burning Darkness“ glänzten unter anderem Ausnahme-Acts wie ANNA VON HAUSSWOLFF, CRAFT und SLAEGT, die mit ihren energiegeladenen und faszinierenden Performances für eindeutige Höhepunkte in den Tilburger Venues sorgten.
Aber auch die rund eineinhalbstündige Show seiner Hausband war ein unvergleichliches Erlebnis! Kraftvoll. Präzise. Mitreißend. AT THE GATES boten dabei einen Querschnitt ihres bisherigen Schaffens, bei deutlicher Fokussierung auf ihren Meilenstein „Slaughter Of The Soul“. Während der PHILIP GLASS-Cover-Version „Koyaanisqatsi“ des gleichnamigen Films, unterstützte zudem ANNA VON HAUSSWOLFF mit ihrem engelsgleichen Organ. Hypnotisch und fesselnd zugleich. Weitere Gastauftritte von Matt Pike (SLEEP/HIGH ON FIRE) und Rob Miller (AMEBIX) verliehen dem Auftritt eine zusätzliche Note, wobei die Cover Version „The Tempter“ der Doom Legenden TROUBLE das Publikum in Ekstase versetze. Pike hier ausnahmsweise mal nur am Mikrofon. Der Mosh-Pit in manischer Erregung. AT THE GATES – ein Wahrzeichen für höchste musikalische Qualität. Die D-Beat-Monstrosität des Death Metal!

(Text & Pics: Marcus Köhler)

 

MESSA

Wie lange warte ich schon darauf, die ItalienerInnen endlich live erleben zu können! Ihre zweite Scheibe ´Feast For Water´ hat mich mit ihrer unergründlichen Tiefe komplett weggerissen, und auch ihre mystischen Videos haben meine Neugierde nur weiter angefüttert, wie es sich wohl anfühlen mag, diese Ausnahmeband und ihre Musik direkt während ihrer Entstehung erleben zu können. Und nun ist es endlich soweit, und die Messe (auf Italienisch Messa) findet absolut stilecht in der sakralen Kulisse des Het Patronaat statt – der perfekte Ort und kurz vor Mitternacht auch die passendste Zeit. MESSA haben sich exklusiv zu diesem Anlass mit Lorenzo De Luca verstärkt, der am Tenor- und Sopransaxophon für noch mehr Wärme und Tiefe in ihrem Sound sorgen wird, und ein spezielles Set aus Songs beiden Langspielplatten für diesen Anlass zusammengestellt.

Ihr zerfliessendes Logo überstrahlt im Hintergrund den gesamten Auftritt, der völlig unprätentiös, ganz ohne irgendwelche Inszenierung einen extrem rituellen Charakter hat – für mich ist es eine reinigende Erfahrung, ein Zu-mir-selbst-Kommen nach diesem aufwühlenden Tag mit seinen vielerlei Eindrücken. Und schaue ich mich um, haben auch viele im Publikum die Augen bei langsamen Passagen immer wieder geschlossen und sind völlig in sich und der Situation versunken.

Doch was ist dabei das Geheimnis der Italienerinnen? Von ihrer absoluten musikalischen Professionalität abgesehen, nehmen sie nicht sich selbst, aber ihre Sache absolut ernst. Sie zelebrieren eine Messe, die allen offen lässt, was sie gerade anbeten möchten, wieviel sie an Unterstützung dabei zulassen und was mit ihnen durch diese so sanfte wie energische Musik dann passiert.

Wie versiert die Musiker sind, zeigt allein schon die Instrumentierung, wechseln doch Marco zwischen Gitarre und Bass, sowie Alberto zwischen Gitarre und Orgel ab, je nachdem, was der Song gerade fordert. Und es kann gut sein, dass nur eine einzelne Gitarre länger über einem Thema sinniert; wenn dann jedoch die anderen mit einsteigen, wird eine nur umso stärkere Magie entfesselt. Und dazu tragen Lorenzos Saxophone heute noch mal umso mehr bei, faszinierend sein Solo beim sessionartigen Monolithen des ´Belfry´-Albums, dem Zehnminüter ´Blood´, in dem sich die Band in einen hochintensiven Rausch spielt.

 

Ihre Stücke laden dazu ein, sich fallen und mitreissen zu lassen in einem Strom, bisweilen auch Strudel, der tief bis ins Unterbewusste zieht und von dort vielerlei Bilder aufsteigen lässt. Den Schlüssel zu dieser Trance hält dabei vor allem Sara in den Händen, die uns mit ihrer betörenden, mal schmeichelnden, dann wieder kraftvoll beschwörenden bis zornig fauchenden Stimme um die Finger wickelt.

Mit ihrem BATHORY-Shirt weist sie ausserdem auf die diversen Einflüsse der Band wunderbar hin: MESSAs genauso samtiger wie überwältigender, dabei aber immer sehr feinsinniger und zurückgenommener „Scarlet Doom“ ist ein Destillat aus Doom, 70ies Psychedelic, Okkult und Prog Rock, Blues, aber auch Jazz, Black Metal, Punk und Dark Ambient, wobei man die einzelnen Einflüsse kaum noch verorten kann, so stimmig wie einzigartig ist das Ergebnis. Für ihren heutigen Auftritt haben sie Songs ausgewählt, die ihre Bandbreite wunderbar aufzeigen – mal verträumt, distanziert, suchend, dann wieder leidenschaftlich und verspielt, bis hin zu kraftvoll galoppierend und riffbetont ist alles dabei, und das zu so nächtlicher Stunde knallvolle Het Patronaat ist gemeinsam am grooven und gibt sich der intimen und gleichzeitig überwältigenden Stimmung hin. Eines der absoluten Highlights dieser RB-Ausgabe, und ein krasser Gegenentwurf zu TWIN TEMPLEs Ritual einen Tag zuvor.

Ich mache mich danach glücklich, leicht, und wie befreit auf den Heimweg. Was für ein Tag! Und es ist grade mal die Hälfte des Festivals herum – wir sehen uns bei Teil II zu Samstag und Sonntag wieder!

 

Autoren Teil I: U.Violet, W. Gessner, M. Köhler; alle Bilder (mit Ausnahme AT THE GATES – M.K.): U.Violet
Mehr Bilder zu den ersten beiden Roadburn-Tagen gibt es hier: https://www.saitenkult.de/2019/08/02/roadburn-bildergalerie-teil-i-11-12-04-19/