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Wenn Musik die Seele kitzelt

~  Metalfans und die „Chill-Reaction“ ~


Es passiert ständig, jeden Tag weltweit Millionen mal. Es trifft Frauen wie Männer, jung wie alt, arm wie reich, zieht sich quer durch die gesamte Gesellschaft. Theoretisch kann es uns überall überfallen, wo wir aktiv Musik hören: auf der Konzertbühne wie im Zuschauerraum davor, auf Festivals und ganz besonders dann, wenn wir zum Mitsingen aufgefordert werden und dies auch aus vollem Herzen tun, aber auch bei laufendem Autoradio im Stau, angesichts eines mitreissenden Films im Kino, unter den stylischen Over-Ear-Kopfhörern auf dem Weg zum Sport genauso wie daheim auf der Couch beim „Chillen“. 

Beim ersten Mal bist Du noch überrascht, aber dann gewöhnst du dich ganz schnell daran und weißt beim nächsten Mal intuitiv schon kurz vorher, dass es gleich wieder losgehen wird – gesetzt den Fall, dass dich die Musik, die du gerade hörst, auch so richtig packt und emotional überwältigt: du kriegst Gänsehaut, im angelsächsischen Sprachraum auch „Chills“ oder „Shivers“ genannt. Aus bislang noch nicht völlig geklärten Gründen kennen jedoch nur ca. 70% aller Menschen diesen Effekt – gehörst DU auch dazu?

 

 

„…I’ve got this chill, yeah, in the back of my spine, baby all the time now…”

(LIFE OF AGONY – ‘Through and Through’)

 

An sich ist die „Piloerektion“ der Haarfollikel eine körperliche, vom vegetativen (dem unbewussten) Nervensystem gesteuerte Reflexreaktion auf Kälte, Angst und Stress – also auf bedrohliche, negative Situationen. Sie diente ursprünglich dazu, das Fell von Säugetieren mithilfe der winzigen Haarbalgmuskeln aufzurichten, um damit ein Luftpolster und einen besseren Isoliereffekt aufzubauen, und vermutlich auch als Imponiergehabe – ein aufgeplustertes Tier wirkt deutlich größer auf den angreifenden Gegner oder den Balz-Konkurrenten. Als Atavismus, ein mittlerweile nutzloses Überbleibsel der Evolution, hat sich dieser Reflex auch beim mittlerweile meist eher spärlich behaarten modernen Menschen erhalten.

Wieso wir jedoch auch mitten in einer jubelnden Menschenmenge im Stadion oder in einer ganz intimen, zärtlich-erregten Situation, ja allgemein bei starken positiven Gefühlen mit Schauern am ganzen Körper reagieren, darauf hat die Wissenschaft bislang noch keine endgültigen Antworten finden können. Und mögliche Erklärungen für das noch viel abstraktere Phänomen der „Chills“ bei intensivem Musikgenuß wollen wir uns im Folgenden einmal genauer anschauen.

 

 

 

“…You know I got so nervous, when I see his eyes that shine; he gets too close, and a chill runs down my spine…

(MOTÖR   HEADGIRL   SCHOOL – ‘Please don’t touch’)


Die meisten von euch werden es von ihren Lieblingssongs kennen:
regelmässig sträuben sich euch wohlig die Haare, es läuft euch kalt den Rücken hinunter oder ihr spürt Tränen in die Augen schiessen, es kann auch ein Kloßgefühl im Hals, allgemeine Erregung inklusive feuchter Handflächen und Herzklopfen oder ein Flattern im Magen hinzukommen – alles eindeutige Reaktionen, die verlässlich reproduzier- und messbar immer an denselben Stellen im Lied auftreten (4). Was diese speziellen musikalischen Muster auszeichnet, und ob tatsächlich alle Hörer gleich darauf reagieren, damit beschäftigt sich Prof. Dr. Eckart Altenmüller am Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin (IMMM) der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.

Er und seine Mitarbeiter haben herausgefunden, dass echte Musikfans, das heißt Berufs- und Amateurmusiker sowie intensive Musikhörer, zu immerhin 90% die Gänsehaut/kalter Schauer-Kombination regelmäßig erleben, und dass sich dieser Effekt auch kaum durch “zu häufiges Hören“ der individuellen „Gänsehautstücke“ abnutzt (2). Zudem sind es vor allem bestimmte musikalische Strukturen wie melodische Höhepunkte, harmonische Sequenzen, sich beschleunigende Rhythmen und vor allem abrupt wechselnde, überraschende Dynamiken, die vorhersehbar solche mächtigen Emotionen hervorrufen (1) (In einem ihrer Versuche wurden von den Forschern übrigens außer klassischen Stücken auch Popmusik und sogar zwei Metalsongs verwendet: APOCALYPTICAs ‚Coma’ und CANNIBAL CORPSEs ‚Skull full of Maggots’. Beides fand wenig Gefallen bei den Versuchspersonen, deren messbare Erregung stieg jedoch gerade beim zweiten Song deutlich an. Kommentar des Wissenschaftlerteams: „Nur etwas für Fans!“).

In Metal übersetzt heisst dies: unvorhersehbare starke Stimmungs-, Lautstärken- und Tempowechsel innerhalb eines Songs, sich langsam aufbauende und schliesslich in einem herausstechenden Solo oder Schrei entladende Spannung, plötzliche Disharmonien, bratende Riffs, die immer schneller werden bis zum musikalischen Höhepunkt lassen uns ehrfurchtsvoll erschauern.

Besonders wirkungsvoll ist jedoch die menschliche Stimme, gerade die oberen Register wie beispielsweise das Hohe C der Tenöre oder im Gegensatz dazu geflüsterte Passagen sind geradezu Gänsehautgaranten. Und mit einem ganz einfachen Effekt kann man sozusagen mit dem Vorschlaghammer Chills erzeugen – nämlich indem man die Lautstärke urplötzlich stark erhöht (1). Dann ist die Reaktion als Erschrecken vor möglicher Gefahr zu interpretieren, was uns zu den neurophysiologischen Hintergründen dieses Reflexes führt.

 

 

 “…A shiver creeps down my spine, as I wander through these hordes…”

(CARPATHIAN FOREST – ‘One With The Earth’)

 

Was nun genau im Gehirn passiert, wenn sich die kleinen Härchen auf unserer Haut aufstellen, ist dem sehr ähnlich was ihr bereits im „Manic Monday“ über die positive Wirkung eurer Lieblingsmusik auf unser körpereigenes Belohnungssystem erfahren habt. Auch hier konnten Forscher anhand von Gehirnscans unter musikalischer Beschallung feststellen, dass sich mit zunehmender Gänsehaut die Aktivität derselben Gehirnareale steigerte wie beim Genuss von Schokolade oder beim Flirten mit einer attraktiven Person (2). Gleichzeitig nahm das neuronale Feuern in Bereichen, die für Angst oder unangenehme Erfahrungen zuständig sind, deutlich ab – besonders gefühlsintensive Musik wirkt daher doppelt positiv auf uns!

Und sie ist ganz nebenbei auch eine präventive Maßnahme gegen Demenz, denn das Gedächtnis wird durch Musikhören ständig geschult und trainiert, indem wir uns unbewusst Melodien, Texte und Strukturen merken. Zusammen führt das zu einem Belohnungszyklus – Musik bringt uns gut drauf, und vermehrter Musikgenuss steigert die dadurch erzeugten Glücksgefühle nochmals.

 

 

„Well I’m in another state, another state of mind; I wish that I could be there right next to her; …Her voice sends shivers down my spine…”

(SOCIAL DISTORTION – ‚Another State of Mind‘)

 

Aber wieso wurde ein entwicklungsgeschichtlich uralter Hautreflex auf Angst und Kälte in unserem Gehirn direkt mit einer angenehmen Hörempfindung verbunden? Die Reaktion eines erschrockenen Steinzeitmenschen auf warnende, laute und schrille Töne kann jeder nachvollziehen – wenn der Säbelzahntiger faucht, heisst es, so schnell wie möglich wegzurennen. Auch wohlige Schauer beim engen zwischenmenschlichen Kontakt bringen den Vorteil der Fortpflanzung und damit Erhaltung der Art. Was ist jedoch der Nutzen von etwas so vergänglichem, kaum fassbarem und eigentlich sinnlos Zeit und Energie verbrauchendem wie Musikmachen und -hören?

Hierzu könnten uns wiederum die Evolution und unsere nächsten Artverwandten Antworten geben: verlieren bei manchen Primaten Mutter und Kind ihren Sichtkontakt, so führt der sogenannte „Trennungsruf“ der Mutter beim Affenbaby dazu, dass sich sein Fell aufstellt, so dass es nicht zu frieren beginnt (2). Auf den Menschen übertragen müsste es daher eigentlich eine universelle „Chill-Musik“ geben, die jeden von uns auf einer tief unbewussten Ebene so dermassen anfasst, dass wir darauf mit einem warmen körperlichen Wohlgefühl reagieren.

Dass dem jedoch nicht so ist, hat schon unsere kleine Facebook-Umfrage gezeigt: auch wenn sie keine statistischen Aussagen erlaubt, wurde doch deutlich, dass jeder seine persönliche, ganz besonders anrührende Musik kennt – kein Lied wurde doppelt genannt. Dies liegt schlicht daran, dass jeder von uns in der Kindheit ganz unterschiedliche Erfahrungen mit Musik gemacht hat, manche Instrumente spielen und andere nicht, jeder sowieso seinen völlig eigenen Geschmack entwickelt hat, und sich heute in ganz anderer Stimmung befindet als morgen – zu viele individuelle Faktoren nehmen hier Einfluss auf unser Gefühlsleben.

 

 

„…As howls are getting higher, sending chills down fleeing spines, their blood runs hot as fire…“

(Amon Amarth – ‚Live for the kill‘)

 

Trotzdem gibt es Situationen, in denen fast jeden eine ästhetische Ergriffenheit, ja eine Art kollektive Ehrfurcht packt. Lasst dazu einfach mal das folgende Video auf Euch wirken – wenn ihr nicht selbst im Publikum wart, achtet vor allem auf die Fans, und natürlich auch auf Eure eigenen Rücken und Handflächen beim Anschauen und Hören:

 

 

Sogar ich selbst schreibe grade mit rechts und muss immer beim Refrain die linke Faust recken, und mitsingen natürlich sowieso…und jemand hat tatsächlich dazu kommentiert: „Ich krieg ne absolute Gänsehaut wenn ich mir nur diesen Clip gebe und ich war noch nicht mal selbst vor Ort.“, denn hier kommt nun ein Aspekt ins Spiel, den jeder Metaller sofort unterschreiben kann: die absolute Identifikation mit unserer Musik, und die starke soziale Bindung an unsere Lieblingsbands, Kumpels und die gesamte Metalszene.

Da besonders Metalfans geradezu für ihre Musik leben, liegt die Vermutung nahe, dass es unter ihnen besonders viele sogenannte „Chill-Persönlichkeiten“ gibt (und genau darauf deuten auch die über 90% Gänsehäuter/innen unserer Umfrage hin), und diese brauchen dann nur an eine solche Situation denken oder darüber zu sprechen, schon beginnen sie hingerissen zu frösteln. Wenn wie im Video 2000 Fans mit den Fäusten in der Luft oder headbangend gemeinsam singen, lässt dies wohl nur die Allerwenigsten von uns kalt, das ist einfach Emotion pur, und eine mögliche Erklärung hierfür fanden Wissenschaftler um Matthew Sachs an der Harvard University (3):

Wer zu den Menschen gehört, die körperlich auf Musik reagieren, dessen Gehirnbereiche für Hörverarbeitung sind besonders effizient mit denen für emotionale und soziale Kontrolle vernetzt – diesen deutlich stärkeren Austausch kann man im Magnetresonanzscanner sogar als dickere Nervenverbindungen sichtbar machen. Sie sind sonst typisch für Menschen mit besonders ausgeprägter Empathie und einem reichen Gefühlsleben, bei Autisten oder an Depression Erkrankten dagegen weniger stark. Und wie sich zeigte, ist hierfür tatsächlich ausschliesslich intensives Musikerleben verantwortlich, denn diese Ergebnisse sind völlig unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder musikalischer Vorbildung.

 

Wir Metaller besitzen also sogar außergewöhnliche Gehirne! Und unsere Musikleidenschaft schweißt und hält uns so zusammen wie in frühgeschichtlicher Zeit das Singen, Trommeln und Tanzen, ja vielleicht auch Headbangen unsere höhlenbewohnenden Vorfahren. Für diese war es nämlich überlebenswichtig, in Gruppen zusammenzuleben und einander zu unterstützen, und ein wichtiger Faktor, der die Einzelindividuen aneinander bindet und damit die Gemeinschaft zusammenhält, war und ist in allen Kulturen das gemeinsame Musikerlebnis. Der direkte, ungefilterte Einfluss von Musik auf unsere Seelen war damit ein evolutionärer Vorteil, der uns erst zu den Menschen gemacht hat, die wir heute sind.

Und wie diese positiven Wirkungen beispielsweise in der Musiktherapie zur Verbesserung von psychischen Erkrankungen eingesetzt werden können, werdet ihr in einem unserer weiteren Beiträge erfahren…

 

Literatur:
(1) Altenmüller E et al (2007): Der Gänsehaut-Faktor. Gehirn & Geist 1-2, 58-63
(2) Altenmüller E (2016): Schauer und Tränen beim Musikhören: Woher kommen sie, wozu führen sie? In: Nohr K, Leikert S (Hg.): Zum Phänomen der Rührung in Psychoanalyse und Musik (pp 35-59). Psychosozial Verlag, Gießen
(3) Sachs M E et al (2016): Brain connectivity reflects human aesthetic responses to music. Social Cognitive and Affective Neuroscience, 11:6, 884-891
(4) Spitzer M (2014): Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk. Schattauer, Stuttgart

Photos: Mario Lang