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FLAMING ROW – Keeper Of The Scriptures / Hüterin der Schriften

2025 (Independent) - Stil: Progressive Rock / Progressive Metal mit symphonischen und folkloristischen Elementen

Vierzehn Jahre nach dem Debüt und sechs Jahre nach ´The Pure Shine´ melden sich FLAMING ROW zurück. Melanie Mau und Martin Schnella haben ihr Viertwerk vollständig in Eigenregie realisiert, samt aufwendiger Edition mit vier CDs und einem begleitenden Buch.

Schon nach wenigen Takten wird deutlich, dass hier kein Projekt mit hübscher Hülle agiert, sondern eine Kunstidee, die Musik, Erzählung und Klangfarben zu einem geschlossenen Erlebnis verbindet. Das Klangbild spannt sich vom metallisch aufgeladenen Prog bis zu kammermusikalischen Momenten. Die Ausführung ruht dennoch auf einer warmen, menschlichen Erdung. Marek Arnold an Keyboards und Saxophon, Niklas Kahl am Schlagzeug, Lars Lehmann am Bass – die vertraute Achse sitzt, erweitert um mehr als dreißig Gäste, die künstlerisch nicht bloß dekorieren, sondern die Erzählung hörbar mittragen. Wer FLAMING ROW bislang als ambitioniertes Kollektiv mochte, erlebt hier eine Vision, die über das Übliche hinauswächst: ein Konzept, das in zwei Sprachen agiert, sogar als Instrumental funktioniert und in literarischer Form wiederkehrt.

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Am Anfang stand kein Riff, sondern ein Text. Christian Dolle schrieb exklusiv für dieses Album die Geschichte von Mithila, einer Welt, deren Hauptstadt Gandhara von einer unheimlichen Macht bedroht wird. Mit allen Verflechtungen ergibt sich ein lebender Strudel aus Wurzelwerk und Schatten, das die Gestalt von Bestien annehmen kann und eine ganze Kultur zu verschlingen droht. Inmitten dieser Bedrängnis stehen zwei Frauen: Meera, die Wächterin von Gandhara, und Nita, die Hüterin der Schriften. Meera kämpft mit Mut und Disziplin an der Front, Nita ringt im Innern um das Gedächtnis eines Volkes. Was zählt mehr in einer Stunde der Zerstörung – der Schutz des Lebens im Jetzt oder die Bewahrung dessen, was dieses Leben erst bedeutungsvoll macht?

Die Erzählung vollzieht diesen doppelten Weg mit ernstem Blick. Draußen vollzieht sich das Ringen um Territorium, Würde und Hoffnung; drinnen das stille, aber nicht minder gefährliche Ringen um Worte, Geschichten und Erinnerung. Nita versteckt Schriften, Legenden, Lieder und Wissen, damit künftig noch erzählt werden kann, wer man war. Meera hält der Dunkelheit stand, damit es überhaupt ein Morgen für diese Geschichten geben wird. Das Konzeptalbum macht aus dieser Parallelität keinen akademischen Kunstgriff, sondern eine spürbare Spannung. Jedes Kapitel spiegelt eine Facette, jede Melodie verrät, auf welcher Seite des Kampfes wir uns gerade befinden. Die Musik wurde nicht über die Handlung gestülpt, sondern im Dialog mit ihr geformt. So entsteht das seltene Gefühl, einer Welt zu begegnen, die sowohl gelesen als auch gehört werden muss, um vollständig Gestalt anzunehmen.

Die Entscheidung, das Werk in deutscher und englischer Fassung einzuspielen, ist mehr als eine Beau Geste. Beide Versionen besitzen ihre eigene Temperatur. Die deutsche Lesart legt die Betonung auf Text und Bildlichkeit; die englische Fassung stellt Kontur und Rhythmus der Phrasen in den Vordergrund. Wer beides hört, begreift, wie unterschiedlich dieselbe Szene erweckt werden kann, wenn eine Sprachmelodie wechselt. Dass darüber hinaus eine Instrumentalausgabe wie auch ein Hörbuch existieren, unterstreicht die Grundidee, dass diese Geschichte in mehreren Aggregatzuständen erlebt werden will. Es ist nicht bloß Musik „nach“ einer Novelle – die Novelle ist der Puls, die Musik das Blut.

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Der Auftakt ´Gandhara’s Legacy´ (deutsch: ´Gandharas Erbe´) führt in ein wiederkehrendes Motiv, das leitmotivisch durch das Album wandert. Orientalisches Schimmern, eine klare Stimme – Josie Ann Mau setzt gleich zu Beginn einen Ton von Licht und Erwartung. Diese Melodie ist nicht bloß hübscher Zierrat; sie markiert einen Ort der Erinnerung, zu dem die Musik auf verschiedenen Wegen zurückkehrt.

Dann hebt ´The Mesh´ (´Das Geflecht´) an – ein dreizehnminütiger Magnet, der den Hörer in Strudel und Gegenläufe reißt. Simon Schröder modelliert seine Trommelfiguren wie Kampfszenen, Marek Arnold lässt Saxophon und Tasten zu Wirbeln werden, und die Gitarren bauen Mauern und Brücken zugleich. Man spürt, wie das Unheil Form gewinnt; Aggression entsteht nicht im Lauten allein, sondern im Wechsel von Druck und Entzug. Die Luftverteilung zwischen Stimmen, Chören und Instrumenten hält das Stück beweglich und macht die Gefahr greifbar.

Mit ´An Invisible Bond´ (´Ein Unsichtbares Band´) öffnet Magali Luyten den lyrischen Kern. Ihre Stimme ruht nicht auf Pathos, sondern auf Wahrhaftigkeit. Martin Schnella antwortet mit einem Gitarrensolo, das weder Virtuosen-Jauchzen noch Effekt-Gewitter ist. In diesen Minuten wird klar, warum FLAMING ROW trotz der Masse an Mitwirkenden so geschlossen klingen, denn hier dient alles der darzustellenden Szene.

´Nita – The Keeper´ und ´Meera – The Guardian´ zeichnen die beiden Protagonistinnen als Klangfiguren. Nita erhält Wärme und jene innere Spannung, die aus Verantwortung erwächst; Meera bekommt Energie und den nach vorn treibenden Puls. Die Vokalschichtungen – unter anderem mit Natalie Brown, Sally Minnear und Mathias Ruck sowie Magali Luyten, Glynn Morgan und Jelena Dobric – sind nicht bloß Choreffekte, sondern dramatische Gewichtungen. Wer genau hinhört, erkennt, wie Stimmen zu Rollen werden und in Dialog treten.

In ´Mithila’s End´ verdichtet sich das Bedrohungsszenario. Der Song schreitet nicht linear voran, sondern hält inne, bricht auf. ´It Was Magic´ (´Es War Ein Zauber´) lässt genau jene zarte Hoffnung schimmern, die das Werk nie ganz loslässt. Danach verwandelt das instrumentale ´Between Worlds´ (´Zwischen Den Welten´) den großen Atem in ein poetisches Innehalten. Harriet Earis an der Harfe zeichnet den Übergang zwischen Traum und Erwachen, kaum länger als eine Minute, doch präzise wie eine Nadel.

Der Schlussbogen zeigt das Ensemble auf der Höhe. ´Hope For A Miracle´ (´Hoffen Auf Ein Wunder´) trägt die Triebkraft im Rhythmus; die Stimmen fassen Takt für Takt mehr Mut. In ´The Last Stand´ (´Das Letzte Gefecht´) packt die Band diesen Mut beim Schopf, ohne in martialische Pose zu kippen; das Heroische entsteht aus Struktur, nicht aus Lautstärke. Wenn ´More Than Words´ (´Mehr Als Nur Ein Wort´) die Bedeutung von Sprache und Erinnerung hervorhebt, schwingt das gesamte Konzept im Subtext mit. Das Finale ´An Old Legend´ (´Eine Alte Sage´) lässt die Geschichte in Würde ausschwingen – mit Gitarrensoli von Eric Gillette und Arjen Lucassen, die nicht um Zentimeter wetteifern, sondern zwei Perspektiven auf denselben Horizont öffnen. Dazwischen glänzen Details: die Lap‑Steel von Martin Huch, die Violine von Joe Deninzon, die Uilleann Pipes und Whistles von Jens Kommnick, Saxophonfarben von Marek Arnold, Sounddetails von Stephan Kernbach. Auf der Rhythmusbank teilen sich Niklas Kahl, Leo Margarit, Jimmy Keegan und Simon Schröder die Schlagzeugplätze; am Bass wirken Lars Lehmann, Alexander Langner und Martin Schnella. Und wenn Marcus Siepen, Richard Henshall, Gary Wehrkamp, Brendt Allman, Johan Hallgren und Rylee McDonald ihre Gitarrenstimmen beisteuern, fügt sich jede Einzelspur wie ein Pinselstrich ins große Bild.

Trotz dieser Fülle bleibt alles durchsichtig. FLAMING ROW schreiben lange, erzählende Stücke, die nicht zerfasern. Man hört die Liebe zum großen Bogen, aber ebenso die Freude am kleinen Motiv, an einer Farbe, die erst im zweiten Durchgang auffällt. Wer Parallelen sucht, wird sie finden, doch das Material hält die eigene Handschrift.

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´Keeper Of The Scriptures – Hüterin Der Schriften´ ist ein Gesamtbild aus Klang und Bedeutung. Das Werk will Zeit, bekommt Aufmerksamkeit und gibt beides in gesteigerter Form zurück. Die Zweisprachigkeit erweist sich als künstlerischer Zugewinn, weil sie dieselbe Szene anders beleuchtet; die Instrumentalversion legt die Architektur frei; das Hörbuch (die deutsche Lesung durch Peter C sowie die englische Lesung durch Christian Peiser) verankert die Motive im Kopf und lässt die Musik im Herzen nachglühen. Dass all dies ohne Label, aber mit höchster Sorgfalt entstanden ist, zeigt eine Haltung, die man in der gegenwärtigen Veröffentlichungslandschaft selten so konsequent erlebt.

Die Stärke dieses Albums liegt nicht nur in Virtuosität oder Produktionsdisziplin, sondern im Feingefühl. Melanie Mau singt mit Überzeugung, die niemals in Pathos kippt; Martin Schnella formuliert seine Gitarrenstimmen so, dass sie erzählen, statt zu dozieren. Die Gäste treten herzu, um zu bereichern, nicht um zu überstrahlen. Alles dient der Frage, die dieses Werk im Kern stellt: Was bleibt, wenn alles fällt? Die Antwort klingt in vielen Farben, doch sie läuft stets auf dasselbe hinaus – Erinnerung, Sprache, Kultur. Genau das trägt dieses Album mit seltener Wärme vor.

Wer Progressive Rock liebt, findet hier ein zeitgenössisches Referenzwerk. Wer Geschichten liebt, wird hören, wie Text und Ton einander den Raum öffnen. Und wer schlicht gute Musik sucht, wird feststellen, dass diese 80 Minuten erstaunlich leicht vergehen, weil sie klug gebaut, tief empfunden und überzeugend gespielt sind. FLAMING ROW haben mit ´Keeper Of The Scriptures – Hüterin Der Schriften´ ein Werk geschaffen, das die Tage überdauern wird.

(9 Punkte)

https://www.facebook.com/flamingrow

 

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