
FRANK SINATRA – In The Wee Small Hours
1955/2025 (Capitol Records/Blue Note) - Stil: Jazz, Pop
Frank Sinatra war ein Mann der Extreme. Wer ihm begegnete, sprach von einem Perfektionisten, einem Getriebenen, einem Menschen, der jede Nuance seines Daseins bis in die letzte Faser auskostete. Sein Leben vereinte Triumphe und Abgründe, Oscar- und Grammy-Ehrungen, drei Sterne auf dem Hollywood Walk of Fame sowie die Presidential Medal of Freedom – und zugleich Krisen, Depressionen, Skandale und jene dunklen Momente, in denen er sich selbst verlor. Die Jahre zwischen 1949 und 1953 markieren den tiefsten Einschnitt: ein Karrieretief, private Erschütterungen, die Trennung von seiner ersten Frau Nancy und die leidenschaftlich-zerstörerische Ehe mit Ava Gardner. Aus Chaos, Unsicherheit und seelischen Erschütterungen entstand jedoch der Boden für eine künstlerische Wiedergeburt, die ihresgleichen sucht.
1953 boten “Capitol Records” Frank Sinatra einen Vertrag, der ihm erstmals die künstlerische Freiheit gewährte, die ihm bei “Columbia” stets gefehlt hatte. Diese neue Autonomie, verbunden mit der nun beginnenden Zusammenarbeit mit Nelson Riddle, eröffnete ihm die Möglichkeit, Musik nicht nur zu interpretieren, sondern aktiv zu gestalten. So entstand ´In The Wee Small Hours´ – eines der ersten echten Konzeptalben überhaupt. Kein loses Nebeneinander von Songs, sondern ein geschlossenes Werk, das das Thema verlorener Liebe aus vielfältigen Perspektiven beleuchtet und durch seine Kohärenz bis heute Maßstäbe setzt.
In einer Ära, in der populäre Musik noch häufig von orchestraler Opulenz oder leichter Unterhaltung geprägt war, erschien 1955 diese konzeptionelle Songsammlung, die bewusst gegen den Strom schwamm. ´In The Wee Small Hours´ richtet den Blick auf jene fragile Welt nach Mitternacht, in der die Stadt verstummt und Gedanken eine eigene Schwere bekommen. Frank Sinatra wählte diesen Raum, um zu zeigen, dass Musik mehr sein kann als begleitetes Gefühl, denn sie kann auch Spiegel, Gefährte und Trost sein. Zusammen mit Nelson Riddle entwarf er eine Klanglandschaft von außergewöhnlicher Feinheit, die subtil, raffiniert, zurückhaltend und zugleich voll tiefer emotionaler Präsenz erschien.
Als Frank Sinatra das Studio betrat, tat er das nicht als Entertainer, der in den 1940ern Applaus und Heiterkeit erntete, sondern als Mann, der inmitten von Herzschmerz, Selbstzweifel und nächtlicher Einsamkeit seine Stimme neu definierte. Er sang diese Lieder nicht, er durchlebte sie. Jede Phrase, jede Nuance, jeder Atemzug schien ein Stück seiner Wahrheit offenzulegen. So wird ´In The Wee Small Hours´ zu einem Seelenportrait, einem musikalischen Abbild jener Stunden zwischen Nacht und Morgen, in denen Gefühle unausweichlich sind und kein Gedanke leise bleibt.

Die Eröffnung mit dem Titelstück ´In The Wee Small Hours Of The Morning´ entfaltet sofort jene intime Atmosphäre, die sich wie ein feiner Schleier über das gesamte Album legt. Die Streicher, das gedämpfte Schlagzeug von Shelly Manne und Bill Millers sparsam eingesetztes Piano schaffen einen Klangraum, in dem Sinatra jede Nuance von Einsamkeit sichtbar macht. Seine Phrasierung wirkt wie ein innerer Monolog, jeder Atemzug ein Gedankenfragment, das im Dunkeln hängen bleibt.
In ´Mood Indigo´ verschmelzen Jazztradition und persönliche Offenheit zu einer elegischen Meditation. Die warmen, tiefen Bläser – darunter Harry Edisons charakteristische Trompete – verleihen dem Stück eine weiche Glut, während Sinatra jede Tonhöhe mit bedachter Zurückhaltung moduliert. Nelson Riddle führt das Orchester wie ein System aus Licht und Schatten; die Musik ist nicht Begleitung, sondern eine lebendige, reagierende Umgebung.
´Glad To Be Unhappy´ zeigt Sinatra als Meister der bittersüßen Ironie. Er singt die Zeilen beinahe lakonisch, wodurch der subtile Humor des Textes in einen tragischen Unterton kippt. Die Streicher hinter ihm pulsen wie ein ruhiger Herzschlag, nie sentimental, immer nüchtern genug, um der Melancholie Gewicht zu geben.
Mit ´I Get Along Without You Very Well´ beginnt jene tiefergehende Innenschau, die das Album so eindringlich macht. Sinatra klingt hier wie ein Mann, der die eigenen Gefühle aus sicherer Distanz betrachtet, als wüsste er genau, wie nahe ihm die Erinnerung kommen könnte, ohne dass er es zulässt. Die Holzbläser und die leisen rhythmischen Impulse verstärken diese fragile Balance aus Nähe und Selbstschutz.
´Deep In A Dream´ wirkt wie ein kurzer Drift in die Welt der Erinnerung. Die Stimme schwebt über dem Orchester, zart, träumerisch, beinahe flüchtig. Sinatras dynamische Nuancen lassen den Hörer mitschweben, während Riddle den musikalischen Raum offen hält – viel Luft, viel Stille, viel ungesagter Schmerz.
In ´I See Your Face Before Me´ erreicht das Album einen Moment reiner Intimität. Sinatra lässt jede Silbe präzise fallen, als würde er sie auf den Hörer legen. Die filigranen Streicherlinien, kaum mehr als ein Hauch, schaffen jene fragile Schönheit, die das Album zu einer nächtlichen Seelenlandschaft werden lässt.
´Can’t We Be Friends?´ und das später folgende ´It Never Entered My Mind´ sind Reflexionen über Beziehungen, die an den Rändern zerbrechen. Sinatra artikuliert jede Zeile mit der Genauigkeit eines Mannes, der die Wahrheit kennt und sie doch erst im Augenblick des Singens akzeptiert. Die Instrumentation folgt ihm wie ein gedämpfter Schatten, der jede emotionale Welle abbildet.
In ´When Your Lover Has Gone´, am Ende der ersten Plattenseite, wirkt Sinatra wie ein Erzähler, der in wenigen Minuten das ganze Gewicht eines Verlustes zusammenfasst. Die Musik trägt ihn, ohne je zu dominieren. Nelson Riddles Orchester ist hier Stimme und Spiegel zugleich.

Die zweite Seite beginnt mit ´What Is This Thing Called Love?´, einem Stück, das mehr innere Zerrissenheit trägt, als sein Titel vermuten lässt. Sinatra phrasiert mit präziser Schärfe – nicht wütend, eher wie jemand, der sich bemüht, die Logik eines Schmerzes zu verstehen, der keiner folgt.
´Last Night When We Were Young´ ist einer der emotionalen Kulminationspunkte des Albums. Sinatras Stimme wirkt hier verletzlich, zugleich würdevoll. Es ist ein Rückblick, der nicht versöhnt, sondern offenlegt. Riddle entfaltet ein Arrangement, das wie ein letzter Schleier aus Erinnerung über dem Stück liegt. ´I’ll Be Around´ erscheint später als Moment zarter Gelassenheit. Sinatra singt mit einer warmen, beinahe väterlichen Ruhe, als sähe er aus der Entfernung auf die zuvor durchlebten Seelenstürme zurück.
Mit ´Ill Wind´ zieht erneut eine düstere Brise über das Album. Hier wirkt Sinatra nachdenklich, fokussiert, der Ton zunehmend introspektiv. Das Orchester hebt Stimmungen hervor, ohne jemals den Rahmen zu sprengen: gedeckte Farben, langsame Linien, ein sensibles Spiel zwischen Stimme und Klang.
´It Never Entered My Mind´ gehört zu den ergreifendsten Interpretationen seiner Karriere. Sinatra gestaltet jede Verzögerung, jedes kleine Zurücknehmen der Stimme wie eine innere Offenbarung. Die Zurückhaltung wird zum Ausdruck höchster Emotionalität.
Mit ´Dancing On The Ceiling´ hellt das Album für einen Moment auf – ein sanftes Anheben, das jedoch nie den Grundton der Nacht verlässt. Sinatra lässt dem Text Leichtigkeit, doch Riddle sorgt dafür, dass diese nie zur Ablenkung wird. ´I’ll Never Be The Same´ wirkt sodann wie eine leise, klare Einsicht, dass Liebe Spuren hinterlässt, die sich nicht verwischen. Sinatra singt ohne Bitterkeit, eher mit klarem Verständnis.
´This Love Of Mine´ – die finale Wendung der Nacht – rundet das Album ab. Sinatra, Mitautor dieses Stücks, begegnet sich hier selbst. Stimme und Orchester verschmelzen, als würde die Nacht, die ihn durchdrungen hat, am Ende ihre eigene Sprache finden.

Technisch brilliert das Album durch das Zusammenspiel mit herausragenden Musikern. Harry Edison setzt mit seiner Trompete feine, glühende Lichtpunkte in die dunkle Klanglandschaft. Ray Brown formt am Kontrabass ein Fundament, das Stabilität vermittelt, ohne je in den Vordergrund zu treten. Shelly Manne hält den emotionalen Puls mit kaum hörbaren Schlagzeugfiguren, die dennoch tiefe Wirkung entfalten. Bill Miller am Piano führt einen stillen Dialog mit Sinatra – ein Wechselspiel aus Andeutung, Stützung und behutsamer Emotionalität.
Nelson Riddles Arrangements bilden das unsichtbare Gerüst dieses Albums. Kein Instrument tritt hervor, jede Klangfarbe ist bewusst gesetzt. Riddle orchestriert wie jemand, der mit Schatten malt: Streicher, Holzbläser, gedämpfte Trompeten, gelegentliche Celeste – alles dient der Stimme, alles verstärkt die innere Logik der Songs. Sinatra nutzt dieses orchestrale Gewebe, um Emotion zu präzisieren, nicht zu überhöhen. Jede Stille hat Bedeutung, jede Pause Gewicht.
Historisch markiert ´In The Wee Small Hours´ einen Wendepunkt. Es begründet das Konzeptalbum im modernen Sinn und definiert, wie populäre Musik intime Emotionen abbilden kann. Sinatra und Riddle brachen Konventionen auf, ließen Raum für Zwischentöne, für Stille, für die feinen Schattierungen menschlicher Erfahrung. Das Album wurde zu einem Lehrstück emotionaler Intelligenz – für Sänger, Arrangeure, Musiker aller Genres. Moderne Remasterings, wie in der „Tone Poet“-Philosophie, machen die subtile Detailtiefe nunmehr fast greifbar, als würde Sinatra selbst in der Nacht neben dem Zuhörer stehen.
´In The Wee Small Hours´ ist nicht bloß eine Sammlung großartiger Interpretationen, sondern ein dokumentierter Gefühlszustand – ein musikalischer Raum, in dem Einsamkeit zu Sprache wird, Verletzlichkeit Würde erhält und der Mythos männlicher Unverwundbarkeit behutsam aufgebrochen wird. Sinatra demonstriert, dass wahre Meisterschaft nicht in Technik allein liegt, sondern in der Fähigkeit, Schmerz, Sehnsucht, stille Resignation und Hoffnung in jedem Ton greifbar zu machen.
Das Album bleibt zeitlos, weil es universelle menschliche Erfahrungen reflektiert: das Verlassenwerden, die tiefen Gedanken der Nacht, das Warten und Erinnern, die flüchtige Schönheit von Liebe und Leben. Jede Note, jede Pause und jedes orchestrale Detail wirken wie ein Hauch der Nacht, in dem wir uns selbst wiederfinden, unsere eigenen Sehnsüchte, Verluste und Hoffnungen gespiegelt. ´In The Wee Small Hours´ wendet sich nicht an die Nacht, es spricht aus ihr, es lässt uns eintauchen in die Dunkelheit, um in ihr Trost, Reflexion und stille Erleuchtung zu finden. Ein Meisterwerk, das die Musikgeschichte geprägt hat, und doch bleibt es vor allem ein Spiegel unserer eigenen inneren Nachtstunden, in denen wir uns wiederfinden.
(Klassiker)



