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KING CRIMSON – Lizard (David Singleton Elemental Mixes)

1970/2025 (DGM/Panegyric) - Stil: Progressive Rock/Avantgarde Jazz

Wenn von den Anfängen des Progressive Rock gesprochen wird, führt kein Weg an KING CRIMSON vorbei. Robert Fripp war schon früh mehr als nur Gitarrist – er war ein musikalischer Architekt, ein Denker, der Rockmusik als offenes System verstand. Seit jenem November 1968, als Robert Fripp gemeinsam mit Greg Lake, Michael Giles, Ian McDonald und Peter Sinfield das erste Kapitel dieser Bandgeschichte aufschlug, war KING CRIMSON weniger eine feste Gruppe als vielmehr ein lebendes Konzept. Das Debüt ´In The Court Of The Crimson King´ (1969) sprengte alle Formen, verband klassische Dramaturgie mit elektrischer Wucht und erschuf jenes Ungeheuer, das später „Progressive Rock“ heißen sollte. Doch der Preis für diese Größe war Instabilität, denn kaum eine Besetzung hielt länger als ein Album.

Nach dem von Brüchen gezeichneten ´In The Wake Of Poseidon´ fand sich Robert Fripp 1970 fast allein inmitten von Visionen, Zweifeln und ungezähmten Ideen wieder. Peter Sinfield blieb als Dichter und Klangmaler an seiner Seite, während neue Weggefährten wie Gordon Haskell, Mel Collins und Andy McCulloch hinzustießen. Unterstützt von Jazzpianist Keith Tippett, den Bläsern Robin Miller, Mark Charig und Nick Evans sowie einem kurzen Gastauftritt von Jon Anderson (YES), formte Robert Fripp im Studio ein Werk, das selbst für KING CRIMSON-Maßstäbe kühn war: ´Lizard´.

Diese dritte Platte ist keine Fortsetzung der bisherigen Linie, sondern ein Aufbruch in unbekanntes Terrain – ein von Jazz, Kammermusik und bizarrer Poesie durchdrungener Kosmos. Wo das Debüt in finsterer Größe schwelgte und ´In The Wake Of Poseidon´ noch an alten Strukturen hing, gleicht ´Lizard´ einem schillernden Mosaik, in dem jedes Stück eine andere Farbe trägt, jede Bewegung eine andere Gravitation.

Der Auftakt ´Cirkus (including Entry Of The Chameleons)´ öffnet die Manege – ein musikalisches Labyrinth aus akustischer Gitarre, Mellotron und Mel Collins’ schneidendem Saxophon. Gordon Haskell führt mit dunklem Timbre durch ein Spiel aus Masken und Spiegeln; seine Stimme wirkt zugleich brüchig und überlegen, während Robert Fripp den Raum mit gezielten Harmonien aufspannt.

´Indoor Games´ tänzelt zwischen Funk, Jazz und Ironie. Mel Collins’ Saxophon legt flirrende Linien, Keith Tippett streut dissonante Pianoperlen, Gordon Haskell lacht am Ende hysterisch auf – ein Moment, der das ganze Stück wie in einem surrealen Zirkusspiegel zerreißt. ´Happy Family´ treibt diese Entfremdung weiter, als eine verschlüsselte Parabel auf den Zerfall der BEATLES. Die Stimme wird verzerrt, verfremdet und zerschnitten. Der Song selbst gleicht einem grotesken Kaleidoskop, über dem Robert Fripps Gitarre schneidende Linien zieht.

Dann wendet sich die Platte plötzlich in eine introspektive Richtung. ´Lady O The Dancing Water´ ist von fast überirdischer Zartheit. Flöte, Posaune und akustische Gitarre malen ein pastorales Bild, das an den melancholischen Frieden von ´Cadence And Cascade´ erinnert. Für einen kurzen Moment scheint die Welt wieder geordnet – bevor sich mit der großen Suite auf der zweiten LP-Seite alles in Bewegung setzt.

Die 23-minütige Komposition ´Lizard´ ist eine Welt für sich, ein vierteiliges Tableau, das von mittelalterlichen Fantasien, höfischer Pracht und apokalyptischer Symbolik durchzogen ist. Der erste Teil, ´Prince Rupert Awakes´, wird von Jon Andersons klarer Stimme getragen – ein strahlender, fast überirdischer Moment, in dem YES und KING CRIMSON für eine kurze Zeit denselben Himmel teilen. Danach entfaltet sich mit dem ´Bolero – The Peacock’s Tale´ eine farbige Instrumentalreise. Bläser, Mellotron und Piano verweben sich zu einem schillernden Reigen, dessen Anmut sich an Ravel anlehnt, ohne ihn zu imitieren.

Mit ´The Battle Of Glass Tears´ erreicht das Werk seinen dramatischen Moment. In einem Sturm aus Schlagzeug, Saxophonen und Gitarren agieren Robert Fripp und Andy McCulloch wie zwei Generäle auf einem imaginären Schlachtfeld. Die Spannung löst sich schließlich in ´Prince Rupert’s Lament´, einem Gitarrenmonolog von schmerzhaftem Liebreiz, der das Album in der kleinen Schönheit ´Big Top´ noch einmal spiegelt. Das Zirkuszelt schließt sich, die Manege leert sich, die Musik verhallt.

´Lizard´ war 1970 ein Rätsel und ist es bis heute geblieben. Ein Album, das sich gängigen Kategorien entzieht – zu intellektuell für den Rock, zu elektrisch für den Jazz, zu verspielt für die Klassik. Robert Fripp und Peter Sinfield entwarfen hier kein leicht zugängliches Werk, sondern eines, das erst nach wiederholtem Hören seine Tiefe offenbart. Wer sich hineinwagt, entdeckt ein Universum aus Farben, Gesten und Symbolen, das in der Geschichte der Band einzigartig bleibt.

Die Neuauflage von 2025 präsentiert ´Lizard´ auf eine Weise, die selbst bekannte Passagen in neuem Licht erscheinen lässt. David Singleton hat einen “Elemental Mix” geschaffen, der die Aufnahmen von 1970 aus allen Richtungen betrachtet und alternative Takes so einfügt, dass das Album einen neuen Charakter gewinnt. Kleine Details rücken in den Vordergrund, Zusammenhänge zwischen den Stimmen und den Melodien werden hörbar, und jede Wendung der Musik entfaltet eine überraschende Lebendigkeit. Wo das Original oft wie ein komplexes Rätsel wirkte, erscheint die Musik nun in fließender Bewegung, reich an Nuancen und subtilen Spannungen. David Singleton nannte seine Arbeit augenzwinkernd „Lizard für jene, die Lizard nie ganz mochten“, doch in Wahrheit zeigt diese Version die ganze Tiefe und Schönheit des Albums. Jeder Moment entfaltet sich organisch, überraschend und eindringlich, als hätte das Album plötzlich Raum gewonnen, den es zuvor nicht hatte.

Auf 200g schwerem Vinyl gepresst, geschnitten von Jason Mitchell bei Loud Mastering, offenbart der neue Mix das Zusammenspiel von Rock, Jazz und Kammermusik in einer bisher ungehörten Klarheit. Einzelne Phrasen, harmonische Brüche und rhythmische Wendungen treten hervor, der Fluss der Musik lässt die Ideen miteinander arbeiten und entfaltet ein Gewebe aus Spannung, Witz und poetischer Kraft.

So zeigt sich ´Lizard´ im Jahre 2025 nicht als bloße Wiederveröffentlichung, sondern als lebendiges Werk, das die Kühnheit, den Humor und die verborgene Schönheit des Originals hörbar macht und die Vision von KING CRIMSON auf neue, überraschende Weise erlebbar werden lässt.

(Klassiker)

https://www.facebook.com/kingcrimsonofficial/

 

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