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JEFF TWEEDY – Twilight Override

2025 (dBpm Records) - Stil: Rock, Folk, World

Jeff Tweedy entfesselt mit ´Twilight Override´ ein musikalisches Epos, das in Dimension und Intensität kaum zu übertreffen ist. Seit den Tagen von THE PLEBES und später UNCLE TUPELO verfolgt er unbeirrbar seinen Weg durch die amerikanische Musiklandschaft, immer wieder auf der Suche nach den Schnittstellen von Folk, Rock, Country und experimenteller Klanggestaltung. Mit WILCO erlangte er weltweite Anerkennung und bewies dabei, dass er nicht nur Songwriter ist, sondern ein feinsinniger Architekt komplexer Klanglandschaften. Auch in Solo-Arbeiten, in Projekten mit seinem Sohn Spencer oder in Kollaborationen mit Mavis Staples zeigt Jeff Tweedy eine unermüdliche Neugier auf musikalische Möglichkeiten jenseits aller Genregrenzen.

´Twilight Override´ entstand über zwei Jahre konzentrierter Arbeit, in enger Zusammenarbeit mit seinen Söhnen Spencer und Sammy, James Elkington, Sima Cunningham, Macie Stewart und Liam Kazar. Dreißig Songs, aufgenommen in Tweedys Loft-Studio in Chicago, formen ein dreifaches Vinyl-Album, das intime Momente ebenso umfasst wie orchestrale Dichte. Die Idee für ein Triple-Album resultierte aus einer Autoreise mit seinen Söhnen, während ´Sandinista!´ von THE CLASH lief. Entstanden ist ein kompromissloses Werk, gleichzeitig persönlich und universell, eine Reflexion über die sozialen Zustände unserer Zeit, die Jeff Tweedy selbst als „bottomless basket of rock bottom“ beschreibt. Es ist ein Versuch, diesem Zustand mit unerschütterlicher Kreativität entgegenzutreten.

Schon der erste Song, ´One Tiny Flower´, entwirft eine Welt, in der Intimität auf kosmische Betrachtung trifft. Zarte Akustikgitarre, Violine, Piano, dezente Percussion und sanfte Synths verschmelzen, unterstützt von Bass und E-Gitarre, während die Lyrics die Zerbrechlichkeit des Lebens und die Schönheit kleiner Blumen reflektieren. Im Refrain entsteht ein leicht schwebendes, traumhaftes Gefühl, wie Morgentau auf Blütenblättern. Die wiederholten Motive der kleinen Blume setzen den Ton für die gesamte Reise und lassen eine zarte, intime Welt entstehen.

´Caught Up In The Past´ schwebt pastoral dahin, mit sanfter Akustikgitarre, Piano, Violine und Chorgesang, die eine melancholisch-neblige Nostalgie erzeugen, während die Lyrics die flüchtigen Momente und verpassten Chancen des Lebens reflektieren, als würden Erinnerungen leise durch einen sonnendurchfluteten Garten wehen.

´Parking Lot´ taucht tief in introspektive Gefilde ein. Minimalistische Instrumentierung trifft Spoken-Word-artige Lyrics, in denen die Stimme zwischen Selbstreflexion und Erinnerung pendelt. E-Gitarre, zurückhaltende Percussion, Piano und Violine setzen gezielt subtile Akzente, die einzelne Worte wie funkelnde Lichtpunkte in der Finsternis hervorheben.

´Forever Never Ends´ balanciert zwischen humorvoller Melancholie und erzählerischer Kraft, mit Akustik- und E-Gitarre sowie subtilen rhythmischen Texturen. Kleine Perkussionsakzente unterstreichen die Spannung zwischen Ernst und Ironie, denn die Lyrics erzeugen eine nachdenkliche, leicht ironische Stimmung, wie ein sonnendurchbrochener Herbsttag.

´Love Is For Love´ thematisiert fragile menschliche Bindungen und emotionale Verletzlichkeit, getragen von Akustikgitarre, Piano, Violine und leichten Synth-Flächen, die sanft aufblitzen und die Intimität der Worte in ein hauchzartes Licht tauchen. Mit ´Mirror´ verschmelzen Minimalismus und orchestrale Fülle, unterstützt von Akustik- und E-Gitarre, Bass, Piano, sanften Streicherflächen, dezenten Synths und zurückhaltender Percussion. Die Lyrics reflektieren die Selbstwahrnehmung und Identität, die Worte erscheinen dabei wie Reflexionen auf Wasseroberflächen.

´Secret Door´ öffnet intime, fast geheimnisvolle Räume, in denen Akustik- und E-Gitarre mit Piano und Violine die Stimmung verdichten. Die Lyrics wirken wie ein leises Flüstern hinter einem Vorhang, der die Zuhörer in verborgene, sanft schimmernde Räume führt. ´Betrayed´ pendelt zwischen Country-Rock-Strut – mit Mandola, E- sowie Akustikgitarre – und Chaos artigem Zusammenbruch. Akzentuierte Percussion treibt den Spannungsbogen, während die Lyrics ein Gefühl von innerer Zerrissenheit und schwebender Unruhe vermitteln, als stünde man am Rande eines stürmischen Abgrunds.

´Sign Of Life´ sucht Lebendigkeit und Verbindung, unterstützt von Akustik- und E-Gitarre. Die Musik verströmt eine schimmernde, hoffnungsvolle Aura, als ob Licht durch dunkle Wolken bricht. ´Throwaway Lines´ fängt die Flüchtigkeit der Kommunikation ein, wenn kleine Worte eine große Bedeutung ergeben können. Die Klangflächen – minimale Synth-Akzenten, Violine und Akustikgitarre – wirken wie Atemzüge, die den flüchtigen Charakter der Worte unterstreichen.

Nach der emotional sehr nahbaren, herzzerreißenden ersten Vinyl-Scheibe ist die zweite mit introspektiven Songs eher melancholisch geprägt. Sie eröffnet mit ´KC Rain (No Wonder)´, einem leisen, regenartigen Song über Heimat, Zufall und alternative Lebensmöglichkeiten. Die Instrumentierung mit Akustik- und E-Gitarre, vor allem mit Zither und Piano lässt den Regen hörbar werden, Tropfen auf einer stillen Landschaft, die die Melancholie und Hoffnung zugleich spiegeln.

´Out In The Dark´ entfaltet eine nächtliche, introspektive Stimmung, getragen von Akustik- und E-Gitarre und zurückhaltender Percussion, die wie entferntes Tropfen wirken. Die Lyrics schweben zwischen Dunkelheit und einem leisen Lichtschimmer, wodurch Intimität und Nachdenklichkeit spürbar werden.

´Better Song´ ist selbstironisch und leichtfüßig, ein Spiegel von Selbstkritik und dem Wunsch nach einem besseren Ausdruck, unterlegt von Akustik- und E-Gitarre, 12-String-Gitarre, leichten Streicherflächen und dezenten rhythmischen Akzenten. Die Instrumente verleihen dem Song eine verspielte Leichtigkeit, die fast wie ein leichtes Lächeln über die Reflexion der Lyrics gelegt ist.

´New Orleans´ bietet gegensätzliche Gefühle. Chaotisch gebrochene Gitarren, gospelische Harmonien, Bass, rhythmische Percussion, Piano, minimaler Schlagzeugeinsatz, Synth-Flächen und Folk-Elemente verweben sich zu einem lebendigen, fast funkelnden Ausdruck von Lebensfreude, als würde die Stadt selbst durch die Musik atmen.

´Over My Head (Everything Goes)´ reflektiert Gefühle der Überforderung, unterstützt von Akustikgitarre, Bass, Piano-Arpeggios, Violine und dezenten Synths, die die innere Spannung der Lyrics hörbar machen. ´Western Clear Skies´ thematisiert Weite und Klarheit der Beobachtung. Die Musik öffnet einen luftigen, fast greifbar weiten Horizont, in dem Ruhe und Offenheit spürbar werden.

´Blank Baby´ balanciert zwischen experimenteller Verspieltheit und introspektiver Dichte. Die Klanglandschaft wirkt verworren und surreal, wie ein Traum, der gleichzeitig spielerisch und nachdenklich ist. ´No One’s Moving On´ beleuchtet die Unfähigkeit loszulassen auf melancholische Weise, getragen von Akustik- und E-Gitarre, Violine und subtilen Streicherflächen. Die Musik reflektiert stille Resignation, ein Innehalten zwischen Vergangenem und Ungewissem.

´Feel Free´ lädt spielerisch und meditativ ein, Freiheit und Selbstbestimmung zu erkunden, unterstützt von Akustikgitarre, Bass, Piano, Percussion, sanften Synth-Flächen und zurückhaltenden rhythmischen Figuren. Die Leichtigkeit der Instrumentierung vermittelt ein Gefühl von Ausdehnung, fast als könnte man fliegen.

Die dritte Vinyl-Scheibe ist experimenteller und verspielter, sie beginnt mit ´Lou Reed Was My Babysitter´, einem frechen, augenzwinkernden Tribut, das Humor, Nostalgie und musikalische Hommage charmant vereint. Die Atmosphäre wirkt verspielt und warm, mit einem leichten Hauch schelmischer Ironie.

´Amar Bharati´ entfaltet meditative, repetitiv gehaltene Klangräume mit Akustik- und E-Gitarre. Die Musik vermittelt fast zeitlose Ruhe, in der die Minuten sich dehnen und die Gedanken schweigen. ´Wedding Cake´ ist skurril und fragmentiert. Das Klangbild wirkt eigenwillig und verspielt, als ob kleine musikalische Fragmente zu einer ungewöhnlichen Collage zusammengesetzt werden.

´Stray Cats in Spain´ thematisiert nostalgisch die Begegnung mit der eigenen musikalischen Geschichte. Die Atmosphäre ist träumerisch, wie das Durchblättern eines alten Fotoalbums. ´Ain’t It A Shame´ reflektiert Verlust, verpasste Gelegenheiten und jugendliche Verletzlichkeit. Die Instrumentierung verstärkt die verletzliche, nachdenkliche Stimmung der Lyrics.

Der Titeltrack, ´Twilight Override´, verbindet introspektive Lyrics mit Akustik- und E-Gitarre, Bass, Violine, Percussion, leichten Piano-Motiven und sanften Synth-Flächen; kleine Streicher setzen subtile Höhepunkte und verstärken die mystische, nachdenkliche Stimmung, sodass der Song wie ein meditativ schimmernder Raum wirkt.

´Too Real´ offenbart Ängste und Zerbrechlichkeit, unterstützt von Piano, Akustik- und E-Gitarre, Bass, Violine, Percussion und subtilen Synths, die eine fragile, introspektive Atmosphäre erzeugen. ´This Is How It Ends´ begegnet Endlichkeit und Schlusspunkten des Lebens, mit einem meditativen, resignativen Ton.

´Saddest Eyes´ ist tief melancholisch, getragen von Akustik- und E-Gitarre, Bass, Violine, Piano, Percussion und leichten Synth-Flächen, die die Traurigkeit der Lyrics greifbar machen. ´Cry Baby Cry´ spielt mit musikalischer Geschichte und Nostalgie. Die Musik erzeugt eine verspielte, wehmütige Melancholie.

´Enough´ bildet den emotionalen Höhepunkt. Leben, Schmerz, Freude, Vergänglichkeit und Vitalität verschmelzen in einem triumphalen Abschluss, getragen von orchestraler Dichte, Akustik- und E-Gitarre, Bass, Percussion, Piano, Synth-Flächen und feinen Streichertexturen, die die emotionale Tiefe der Lyrics subtil untermalen.

´Twilight Override´ ist mehr als eine Sammlung von Songs. Jeder Track trägt die Spuren von Leben, Erfahrung und künstlerischer Neugier. Nach dreißig Songs und fast zwei Stunden wird deutlich, dass man Zeuge einer wahren künstlerischen Reise wird, in der jede Note, jeder Atemzug und jede Zwischenschwingung einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Die Veröffentlichung als dreifache LP in einem limitierten Box-Set auf “New Moon White Swirl”- oder “Deep Space Black”-Vinyl unterstreicht die Ambition des Projekts. Jede Platte besitzt einen eigenen Sleeve und ein bedrucktes Lyrics-Sheet, sodass Haptik und visuelles Erlebnis die Musik ergänzen. Das Set vermittelt Sammlerwert und erlaubt es der Hörerschaft, physisch in Jeff Tweedys Klangwelten einzutauchen, ohne die Wärme und Transparenz der Produktion zu beeinträchtigen.

´Twilight Override´ ist kein Album zum Nebenbei-Hören. Es fordert Aufmerksamkeit, lädt ein, jede Nuance bewusst wahrzunehmen. Jeff Tweedy beweist erneut, dass seine Musik nicht nur erzählt, sondern reflektiert, durchleuchtet und transformiert. In einer Welt, die Jeff Tweedy als „Twilight of an empire“ beschreibt, setzt er Kreativität gegen die Dunkelheit – ein Widerstand, der sein Schaffen prägt. ´Twilight Override´ ist ein triumphales, dreifaches Statement, das eine Energie entfaltet, die noch lange nach dem letzten Ton nachhallt.

(8,88 Punkte)

https://www.facebook.com/jefftweedyHQ

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