
THE GATHERING – Mandylion
1995/2025 (Psychonaut Records) - Stil: Rock/Metal
Wenn man über Alben spricht, die die Metal- und Gothic-Szene der Neunzigerjahre nachhaltig geprägt haben, kommt man an THE GATHERING und ´Mandylion´ einfach nicht vorbei. 1995 erschien das dritte Album der Niederländer und markierte nicht nur einen Meilenstein in ihrer Karriere, sondern auch den endgültigen Durchbruch in Europa. Mit der Einführung von Anneke van Giersbergen als neue Sängerin veränderte sich das Gesicht der Band dramatisch. Weg vom atmosphärischen Doom Metal ihrer frühen Jahre, hin zu einem Mix aus Gothic Rock, Psychedelic Rock und subtilen Shoegaze-Einflüssen. Wer THE GATHERING bis dahin nur als eigenwillige Doom Metal-Band kannte, erlebte mit ´Mandylion´ einen regelrechten Quantensprung in Sound, Atmosphäre und Songwriting.
THE GATHERING hatten seit ihrer Gründung 1989 in Oss, North Brabant, eine klare Vision. René und Hans Rutten, zusammen mit Hugo Prinsen Geerligs und Frank Boeijen, experimentierten recht früh mit Keyboards im Metal-Kontext. Im damals noch sehr harten niederländischen Underground eine kleine Revolution. Nach zwei eher holprigen Alben, die von wechselnden Sängerinnen und Sängern geprägt waren, fanden sie mit Anneke van Giersbergen nicht nur eine charismatische Stimme, sondern auch eine kreative Partnerin, die das Songwriting auf ein neues Level hob.
´Mandylion´ ist stilistisch ein faszinierendes Werk. Es ist schwer, mystisch, aber immer melodisch. Die Band jongliert mit doomigen Gitarrenriffs, sphärischen Keyboardflächen und fließenden, fast hypnotischen Songstrukturen. Die Songs wirken zu keiner Sekunde überladen. Alles hat seinen Platz, alles atmet. Mitte der Neunzigerjahre, als Grunge die Charts dominierte und Metal in viele Schubladen zerfiel, bot THE GATHERING mit diesem Album eine erwachsene, progressive Alternative, die sowohl Metal-Fans als auch Hörer von atmosphärischem Rock anzog.
Die aktuelle “30th Anniversary Edition” als 4LP-Set ist ein echtes Highlight für Vinyl-Fans. Die Mastering-Qualität ist kristallklar, die farbigen Pressungen in Gold, Rot, Silber und Blau machen das Set zu einem optischen Erlebnis, das dem ikonischen Status des Albums gerecht wird. Demos & B-Sides sowie exklusives Live-Material von Pinkpop 1996 und anderen Shows liefern einen Einblick in die kreative Tiefe der Band. Das 12-seitige Booklet mit Bildern, Lyrics und persönlichen Anmerkungen rundet die Edition perfekt ab. Eine Zeitkapsel der Neunzigerjahre, die beweist, warum ´Mandylion´ nie in Vergessenheit geraten wird.
Denn ´Mandylion´ hat die europäische Szene nachhaltig beeinflusst. Viele Bands der späten 90er und frühen 2000er, die Gothic, Doom oder atmosphärische Elemente kombinierten, orientierten sich an THE GATHERINGs mutigem Schritt. Annekes Gesang eröffnete neue Möglichkeiten für weibliche Stimmen im Metal, die nicht nur kraftvoll, sondern auch emotional nuanciert sind. Dieses Album ist ein echter Meilenstein, der auch heute noch frisch klingt – und die “Deluxe-Edition” macht es zu einem Must-Have für Fans, Sammler und alle, die die Magie der Neunzigerjahre in Musikform erleben wollen. ´Mandylion´ zeigt, wie weit THE GATHERING ihrer Zeit voraus waren.
´Strange Machines´ – Der Auftakt ist äußerst markant. Unterlegt von Hans Ruttens basslastigem Schlagzeug, ertönt ein schweres und unvergessliches Haupt-Riff, das die Bühne für Annekes Stimme bereitet. Schon nach den ersten Sekunden wird klar, dass hier Doom Metal-Wurzeln auf experimentelle, atmosphärische Elemente treffen. Frank Boeijens Synthesizer mischen sich dezent ein, um die harten Kanten des Riffs abzurunden, während Anneke wie eine himmlische Sirene durch den Song schwebt. Die Mischung aus wuchtiger Gitarre, treibendem Bass, hypnotischen Synthflächen und einer Stimme, die zwischen warm und durchdringend wechselt, macht ´Strange Machines´ zu einem sofort wiedererkennbaren Klassiker.
´Eléanor´ – Dunkel, fast bedrohlich, mit einem metronomischen Rhythmus, entfaltet ´Eléanor´ symphonische Düsternis. Die Gitarren erinnern an BLACK SABBATH, doch Annekes Gesang bringt eine unwiderstehliche Idylle herein. Zwischendurch brechen Tribal-Tamburine von Hans Rutten durch, und ein wuchtiges Solo erinnert an progressive Experimente vergangener Jahrzehnte. Ein avantgardistischer Track mit hektischen Rhythmus-Einschüben in gespenstischer Atmosphäre, der zeigt, dass THE GATHERING keine Angst vor ungewöhnlichen Strukturen hatten.
´In Motion #1´ – Hypnotisch, fast meditativ, beginnt der Song langsam und steigert sich über raffinierte Keyboard-Layers, die den Hörer in eine tranceartige Atmosphäre versetzen. Annekes Gesang fliegt luftig über die instrumentale Landschaft, als würde sie in einem weißen Kleid über die Wolken schreiten und dabei “Kill me with your thoughts” singen. Die minimalistische Struktur, aus Shoegaze und etwas DEAD CAN DANCE, macht den Track besonders intensiv.
´Leaves´ – Einer der bekanntesten Tracks des Albums, visuell durch eines der ersten Videos mit Anneke ohne die üblichen Glitzer-Rhinestones geprägt. Langsam, hypnotisch und mantrisch, perfekt, um die emotionale Bandbreite von Annekes Stimme zu zeigen. Gitarren und Keyboard bauen Spannungsbögen auf und lassen den Hörer in eine romantische sowie geradezu singende Klangwelt eintauchen.
´Fear The Sea´ – Hier wird es nervös und kraftvoll. Das Gitarrenriff springt abgehackt, Frank Boeijen fügt elektronische, fast TANGERINE DREAM-artige Elemente hinzu, und Hugo Prinsen Geerligs’ Bass sorgt für wuchtige Tiefe. Der Song verschiebt sich zwischen hypnotischen Momenten und wave-rockigen Gitarrenpassagen – experimentelle Gothic-Atmosphäre trifft auf Doom-Gewicht.
´Mandylion´ – Der instrumentale Titeltrack entführt in archaische Klanglandschaften, samt Didgeridoo-artigen Synths, tribal Percussions, Glocken und fließenden Keyboards, die eine beinahe sakrale Atmosphäre erzeugen. Gitarren schieben sich langsam nach vorne und verstärken die epische Wirkung. Ein Stück, das Einflüsse von Peter Gabriel und DEAD CAN DANCE erkennen lässt, und gleichzeitig die doomige Wucht der Band trägt – ein instrumentales Meisterwerk.
´Sand & Mercury´ – Emotional und atmosphärisch vielleicht die herausragende Komposition. Mehrere Songideen vereinen sich in einem Stück. Erst beinahe CELTIC FROST-Heavyness, dann PINK FLOYD-artige Drums, hypnotische Piano- und Gitarrenmelodien. Annekes Gesang flüstert und schreit zugleich, die Emotionen steigen und fallen wie Wellen. Das pompöse Finale mit Simone de Beauvoir-Zitat als Sample, gesprochen von J.R.R. Tolkien aus einer alten “BBC”‑Aufnahme, ist episch und unvergesslich.
´In Motion #2´ – Das abschließende Stück führt den Hörer sanft zurück auf die Erde. Melancholisch, langsam, aber voller Hoffnung, verbinden sich Keyboard-Texturen, Gitarren und Gesang zu einem letzten Höhepunkt. Die Wiederaufnahme von Motiven aus ´In Motion #1´ und den anderen Kompositionen schafft eine poetische Klammer für das Album. Ein perfektes Ende für ein in sich geschlossenes Werk.
Wenn man gestern, heute oder morgen ´Mandylion´ hört, vergisst man fast, dass die Magie nicht einfach aus dem Nichts kam. 1995 saßen die Leute von “Century Media” in Santa Monica zusammen, starrten auf ein frisch importiertes VHS-Video von ´Leaves´ und konnten kaum glauben, was sie sahen: Anneke in einem schlichten Outfit, René Rutten vollführte seinen legendären Hair-Flip im Wald (der später rausgeschnitten wurde) und die Songs selbst waren so makellos, dass alle Zweifel an einer „neuen Version“ der Band sofort verpufften.
Im Studio war es kaum weniger beeindruckend. Der Produzent staunte, wie THE GATHERING mit wenigen Sounds eine ganze Klangwelt erschufen, während Anneke ihre Leads locker als Scratch-Vocals einsang. Aufnahmen, die jeden späteren Mix mühelos überstrahlten. Offenheit, Charme und diese fast familiäre Atmosphäre machten die Sessions zu einem echten Vergnügen – und ja, das ansteckende Lächeln mit niederländischem Akzent war mindestens so verführerisch wie die Musik selbst.
Live war der Effekt nicht minder dramatisch. Ein Musikerkollege saß an einem kalten Dezemberabend in Tilburg noch beim Catering, als ein Freund ihn plötzlich zur Bühne zerrte: „Dude, du musst das sehen, die haben ’ne neue Sängerin!“ Sekunden später erklomm er die Treppen, hörte die ersten Töne von ´Strange Machines´ – und jedes einzelne Nackenhaar stellte sich auf. Das war das zweite Konzert der Band mit Anneke, und dennoch wurde sofort klar, dass hier jemand eine neue Ebene erklomm, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Über das eigene Konzert an diesem Abend? „Keine Ahnung, ich erinnere mich an nichts.“
So ist ´Mandylion´ nicht nur ein Album, es ist ein Zeitzeugnis voller kleiner Wunder, überraschender Momente und charmant skurriler Details. Das Didgeridoo-artige Synth-Gewaber, die Tribal-Tamburine, seltsame Lyrics über Russische Revolutionen und Beethoven und vor allem diese Stimme halten irgendwie alles zusammen. 30 Jahre später klingt die Musik noch vollkommen frisch, als wäre sie erst gestern aufgenommen worden. Die Geschichte dahinter ist ein bisschen verrückt, absolut charmant und genau so, wie man es sich für einen Klassiker wünscht.
https://www.facebook.com/thegatheringofficial
Anneke van Giersbergen – Lead-Gesang
René Rutten – Gitarren , Flöte
Jelmer Wiersma – Gitarren
Frank Boeijen – Keyboards
Hugo Prinsen Geerligs – Bass
Hans Rutten – Schlagzeug