
SONS OF RA – Standard Deviation
2025 (Free Electric Sound) - Stil: Progressive Rock/Metal, Jazz/Fusion
Zwanzig Jahre brodelte es unter der Oberfläche Chicagos, ein musikalischer Vulkan, der sich nicht mit Lava begnügte, sondern gleich ganze Klangkontinente verschob. SONS OF RA – das Power-Trio aus Gitarrist Erik Oldman Vecchione, Drummer Michael Rataj und Bassist/Saxophonist Keith Wakefield – haben seit 2016 vier EPs wie geheime Koordinaten auf ihrer Landkarte verteilt. 2024 dann die seismische Erschütterung mit der sechsteiligen Suite ´Tropic Of Cancer´. Und nun, 2025, endlich das, worauf diese zwei Dekaden hingearbeitet haben, endlich erscheint ihr Langspiel-Debüt ´Standard Deviation´.
In den „Palisade Studios“ unter den wachsamen Ohren von Spenser Morris (SAOR, PANOPTICON) aufgenommen und von Grammy-Gewinner Alan Douches veredelt, ist ´Standard Deviation´ kein glattpoliertes Jazzrock-Update, sondern eine hochkonzentrierte Destillation ihrer Einflüsse: Avantgarde-Jazz, Math und Prog Rock, Funk-Polyrhythmik, eine Prise Metal-Schmelze – alles in feiner Balance, nie als Zitat, immer als organische Energie.
Dass sie sich dabei auch vor Giganten wie Carla Bley, John Coltrane und Don Ellis verneigen, spricht für ihre Furchtlosigkeit. Gleich der Opener ´Disintegration (Alabama Revisited)´ trägt den Coltrane-Geist in Fripp’sche Gitarrenstrukturen, marschiert mit doomiger Schwere durch ein imaginäres 1960er-Amerika im Bürgerkriegsmodus. Ein brodelnder Auftakt, der alles andere als Standard ist.
´Outside Looking In´ schaltet in den Groove-Modus – funky, zirkulierend, beinahe wie ein Cop-Show-Soundtrack aus den späten 70ern, nur eben mit Mathrock-Unterbau. ´Don’t Know Yet´ dagegen verschachtelt sich in Saxophonlinien und plötzlich hereinbrechenden Gitarrenriffs, als würde ein Zug aus purem Metall durch einen Jazzclub rasen.
Dann offenbart ´Intrepidation´ Bossa Nova-Schattierungen, Congas und dank Gastmusiker Isaiah Sanderman sogar Flötenfarben, während Oldman die Gitarre wie eine Sonne aufgehen lässt und Rataj das Ganze in filigrane Rhythmen verwebt. Ein Spaziergang an der Copacabana mit einem Hochprozentigen im Bauch.
Wenn ´Vashkar´ explodiert, ist es, als ob Mahavishnu Orchestra plötzlich in einem Progmetal-Gewitter stranden. Die Band baut Spannungen wie Gezeiten auf, lässt sie aufbrechen, nur um sie in flirrenden Solos wieder aufzusaugen. ´Upstart´ setzt auf kontrollierte Detonationen, ´Porous Silver´ swingt leichtfüßig, fast Django-artig, bis Wakefields Bass alles übernimmt und mit einem seidigen Funk-Glanz den Raum flutet.
Und dann der überraschend souljazzige ´Nature Boy´, Eden Ahbez’ Evergreen im SONS OF RA-Kosmos neu geboren, bevor ´Lividity And The Ascension´ den Vorhang schließt – ein euphorischer, fast hymnischer Ausklang, als hätten drei Sound-Alchemisten gerade das Labor in die Luft gejagt.
Was dieses Album so besonders macht, ist nicht nur der instrumentale Wahnsinn, sondern seine innere Logik. Jeder Ausbruch folgt einem eigenen Gravitationsfeld. Die Saxophonlinien ersetzen jeden Gesang, die Gitarre schneidet Riffs wie aus Granit, und das Schlagzeug hält selbst dann noch alles zusammen, wenn die Zeitachsen schon kollabieren.
´Standard Deviation´ ist kein schlichtes Debüt, es ist jazzig, kantig, kosmisch und verdammt cool. Als hätte man KING CRIMSON, MAHAVISHNU ORCHESTRA, THE MARS VOLTA und die Chicagoer Industrial-Szene in einen Partikelbeschleuniger geworfen und beim Urknall die Bänder mitlaufen lassen.
Wer immer noch glaubt, Jazzfusion sei ein Genre aus dem Museum, bekommt hier den Beweis des Gegenteils. SONS OF RA haben zwanzig Jahre auf diesen Moment hingearbeitet – und mit ´Standard Deviation´ einen ersten, großen Meilenstein gesetzt.
(9 Punkte)