
NINE DAYS’ WONDER – The Bacillus Years
2025 (MiG Music) - Stil: Prog Rock
Wenn ein Kasten voller remasterter Scheiben plötzlich in deinem Player landet und dich anspringt wie ein psychedelischer Tiger, dann ahnst du bereits, dass du kein gewöhnliches Boxset in den Händen hälst, sondern ´The Bacillus Years´ von NINE DAYS’ WONDER. Vier Alben, entstanden zwischen 1971 und 1976, dazu die rare Single der kurzlebigen MATERNAL JOY, sind nun wieder aufgetaucht wie ein versunkenes Wrack aus der goldenen Ära des deutschen Underground. Und wer immer noch glaubt, Mannheim hätte damals Grau in Grau gelebt, wird hier eines Besseren belehrt.
Walter Seyffer, der eigenwillige Sänger, Trommler, Visionär und ewige Getriebene, gründete NINE DAYS’ WONDER Mitte der Sechziger als THE GRAVES. Aufgewachsen zwischen schwarzem Filterkaffee, kaltem Küchenlicht und der Ahnung, dass das Leben mehr sein muss als Schichtarbeit, sog er alles auf, was anders klang: Zappa, SOFT MACHINE, KING CRIMSON, DEEP PURPLE – und drehte daraus seinen eigenen Klangkosmos. Die Band wurde früh zum internationalen Kuriosum. Ein Ire, ein Brite, ein Österreicher und zwei Deutsche ergaben zusammen eine multinationale Prog-Bombe mit schiefem Grinsen.
Das Debüt ´Nine Days’ Wonder´ (1971) ist noch heute ein schillerndes Monster. Es rast wild, kantig und zickzack durch Genres, als hätte jemand Beefheart, JETHRO TULL und KING CRIMSON in einen rotierenden Betonmischer geworfen. ´Fermillion´ rollt mit harten Gitarren los, packt Flötenläufe und Sax-Stürme oben drauf und kehrt mit etwas elektronischer Zersetzung zurück. ´Apple Tree´ ist Zappa-eskes Chaos mit Groove, ´Drag Dilemma´ ein 13-Minuten-Ritt auf der Rasierklinge zwischen Rocktheater und freier Improvisation. Dieses Album ist kein Spaziergang, sondern ein Rauschzustand auf Vinyl, und heute auf Silberling, sperrig, aber glitzernd, und wahrscheinlich das Beste, was diese Band je tat. Nicht umsonst gilt diese Frühformation mit John Earle am Sax als Legende, bevor sie sich schon 1972 in Rauch auflöste.
´We Never Lost Control´ (1973), mit Seyffers Medusa-Gefährten reformiert, war kontrollierter, aber keinesfalls zahm. Der Sound wurde prog-rockiger, Hammond-Orgeln und Mellotron schwollen an, Freddie Münsters Saxophon schimmerte durch Nebelschwaden, Michael Bundts Bass pumpte wie ein Herz unter Strom. ´Andromeda Nomads´ tänzelt erst verspielt, kippt dann ins Wahnsinnige, und ´We Grasp The Naked Meat´ ist neun Minuten pure Prog-Ekstase, ein Labyrinth aus Hammond-Fanfaren, jazzigem Schlagzeug und Gitarrenblitzen. Dieses Album ist die Brücke zwischen NINE DAYS’ WONDERs wilder Geburtsstunde und dem Versuch, Struktur in den Sturm zu bringen – ein Balanceakt, der erstaunlich oft gelingt.
Doch dann kam der Bruch. ´Only The Dancer´ (1975) klingt, als hätte Seyffer genug vom Kopfsprung ins Chaos und plötzlich Lust auf Rock mit straffer Leine. Rolf Henning kehrt zurück, Dave Jackson von VAN DER GRAAF GENERATOR bläst Saxophon-Goldstaub in die Rillen, aber vieles wirkt plötzlich zu brav. ´Long Distance Line´ hat clevere Brüche, ´Moment´ lässt kurz wieder den alten Prog-Geist aufglimmen – aber dazwischen plätschert vieles im Fahrwasser des britischen Rock mit Chart-Ambitionen. Kein Beinbruch, aber für NINE DAYS’ WONDER-Verhältnisse fast zu normal.
´Sonnet To Billy Frost´ (1976) schließlich verabschiedete sich endgültig vom NINE DAYS’ WONDER-Wahnsinn. Neue Leute, neuer Sound – und leider auch die Magie verflogen. Was hier aus den Boxen tropft, ist polierter, angloamerikanisch schimmernder Rock. ´Alchemists´ und der Titelsong blitzen noch kurz auf, aber insgesamt wirkt das Album, als hätten NINE DAYS’ WONDER sich selbst vergessen. Danach war Schluss – und vielleicht war das gut so.
Was ´The Bacillus Years´ heute so besonders macht, ist nicht nur der liebevolle Remaster-Klang und die rare ´Ticket To The Northpole´-Single, sondern die Geschichte dahinter: Walter Seyffer, der Arbeiterjunge, der lieber klang als funktionierte. Der lieber mit Vision scheiterte als mit Routine glänzte. Er ahnte, dass es da draußen mehr geben musste, mehr als die Küche seines Vaters, mehr als der Geruch nach kaltem Rauch. Und genau diese Sehnsucht hallt durch jede Note der frühen NINE DAYS’ WONDER.
´The Bacillus Years´ ist ein echter Trip, ein Saitenheiligtum für Prog-Fanatiker und Klangabenteurer, die keine Angst vor Ecken und schrägem Genie haben. Vor allem die ersten beiden Alben sind Pflichtstoff. Spätere Werke mögen schwächeln, aber sie erzählen vom Versuch, das Unzähmbare doch noch zu zähmen. Zum Glück ist es ihnen nie ganz gelungen.
Ein Hochglanz-Albumset über eine Band, die nie wirklich Hochglanz sein wollte – und genau deshalb jetzt wieder glänzt.
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