
ARJEN ANTHONY LUCASSEN – Songs No One Will Hear
2025 (InsideOutMusic/Sony Music) - Stil: Prog Rock
Die Welt geht unter und Arjen Anthony Lucassen spielt den Soundtrack dazu, mit flackernden Kerzen im Studio, schwebenden Geigen und dem letzten Lächeln eines Mannes, der weiß, dass auch der Untergang noch schön klingen kann.
Der über zwei Meter große Niederländer hat uns seit Jahrzehnten in seine Klanguniversen entführt — mit AYREON, STAR ONE, THE GENTLE STORM oder GUILT MACHINE, zwischen Science-Fiction-Opern, Raum-Zeit-Kollisionen und metallisch schillernden Konzept-Kolossen. Doch diesmal bleibt er auf der Erde. Kein ferner Planet, keine KI, keine außerirdischen Utopien. Nur die Menschheit und ein Asteroid, der in fünf Monaten alles vernichten wird. ´Songs No One Will Hear´ ist sein persönlichstes Werk seit ´Lost In The New Real´ – ein Solowerk, das gleichzeitig wie ein Fiebertraum der ganzen Menschheit klingt.
Und es beginnt mit einem schauervollen Grinsen. ´End Of The World Show´ ist nur 42 Sekunden lang, aber es zündet wie ein makabrer Sektkorken. Mike Mills begrüßt uns wie ein Radiomoderator, der die Apokalypse als Quizshow verkauft, während ein ironischer Jingle den Vorhang aufzieht. Dann fällt das Licht.
Mit ´The Clock Ticks Down´ setzt Lucassen die Zeitmaschine in Gang — und das Leben steht still. Wir erleben eine Welt, die im Chaos zerbricht: Stromausfälle, Riots, Wirtschaftskollaps, der letzte Versuch, Träume zu erfüllen oder alles einfach aufzugeben. Getragene Akkorde schlagen wie ein langsames Pendel, das Herz schwer und brüchig, während Marcela Bovios helle Stimme wie ein letzter Sonnenstrahl auf leeren Straßen liegt. Die kurzen jaulenden Gitarren-Leads fügen eine beinahe wehmütige Intensität hinzu. Arjen Lucassen ist in diesen letzten Stunden selbst an allen übrigen Instrumenten und Lead Vocals zu finden, Koen Herfst am Schlagzeug, Joost van den Broek an der Hammond-Orgel, Ben Mathot auf der Violine, Jurriaan Westerveld am Cello und Jeroen Goossens an der Flöte.
Und die Welt wird von Minute zu Minute verrückter. ´Goddamn Conspiracy´ springt uns an wie ein wütender Prediger auf dem Marktplatz. Die Welt ist im Verschwörungswahn: “5G, JFK, Chemtrails, climate change”. Alles eine Lüge, alles kontrolliert, doch in der Endzeit wird die Wahrheit zur Lüge und die Lüge zur Wahrheit. Die Musik zischelt, die Stimme ist verzerrt, Flöten und Orgeln wirbeln wie aus einer LSD-getränkten Canterbury-Nacht, während der Refrain von Irene Jansen wie kaltes Neonlicht durch den Nebel der Paranoia schneidet. Vernunft hat hier keine Chance mehr.
´The Universe Has Other Plans´ nimmt einen völlig anderen Anlauf. Eröffnet von Ben Mathot an einer einsamen Violine, erzählt der Song vom Zerplatzen aller Lebensentwürfe, von Menschen, die glaubten, die Welt läge ihnen zu Füßen. Jetzt, da das Universum “andere Pläne” mit ihnen hat, wirken sie resigniert, fast kosmisch gleichgültig: “As you gaze up to the stars, it doesn’t matter who you are.” Der Refrain wird getragen von Irene Jansen, die Musik erhebt sich in weiten Soli, aber ohne Triumph, eher wie ein Blick in einen endlosen, kalten Sternenhimmel.
Dann, wie ein hysterisches Lachen mitten im Chaos: ´Shaggathon´. Wenn alles endet, bleibt nur noch der Exzess, ein letzter Tanz auf dem Vulkan. “One big wild and steamy shaggathon” — eine letzte Orgie als Trotzreaktion auf den Weltuntergang. Die Gitarren tänzeln, Frauenstimmen glitzern im Background, während das finale Feuerwerk gezündet wird. Nach uns die Sintflut, ruft der Song — und man möchte ihm tatsächlich folgen.
´We’ll Never Know´ ist danach wie ein plötzlicher Zusammenbruch. Floor Jansen singt von der nie gelebten Zukunft, von Kindern, die nie erwachsen werden. Der Song schwebt elektronisch und melancholisch, bis jeder Refrain die Sonne tiefer hinabzieht. ´Dr. Slumber’s Blue Bus´ fährt uns dann wie in federleichten Melodien durch eine seltsam blaue Traumwelt, eine surreale letzte Flucht, Sanctuary Island als Fantasie-Ziel, wo alles sanft endet. Und Mike Mills’ Radiostimme klingt, als würde er uns in den Schlaf wiegen, während draußen die Welt implodiert.
´Just Not Today´ ist ein letztes, ein flackerndes Lagerfeuer mit Geige und Akustikgitarre, ein zärtliches Aufschieben des Endes: “We’ll fade away… just not today”. Denn dann kommt das Unvermeidliche: ´Our Final Song´, vierzehn Minuten lang. Ein letztes Mal auf Sanctuary Island, dem letzten Ort auf Erden, an dem noch Musik spielt, bevor der Asteroid den Himmel zerreißt. Es ist ein Chor aus Geständnissen, Reue und Selbstanklage. Robert Soeterboek und Marcela Bovio sowie Irene Jansen stimmen mit ein. Im gleichen Moment brennt die Welt, das Meer spiegelt Blutrot, und doch fühlen sie sich “in some way so strong, as we sing our final song”. Am Ende bleibt nur Arjen Lucassen allein, schreibend: “Writing songs no one will hear”. Und dann Stille. Wie ein Brief, den niemand lesen wird.
´Songs No One Will Hear´ ist kein klassisches Prog-Bollwerk, kein Instrumentengewitter, es ist ein Folk-getränkter, melancholisch schillernder Klangroman über das Ende, getragen von echten Instrumenten, von Streichern, Flöten, Orgeln, und dieser typischen Lucassen-Handschrift, die selbst den Untergang melodisch leuchten lässt. Die Songs sind für sich gesehen oft schlicht, aber als Zyklus jeder eine andere letzte Reaktion auf die Katastrophe – Panik, Wut, Flucht, Resignation, Ekstase, Zärtlichkeit, Frieden. Jeder mit einer anderen Farbe im Untergangshimmel.
Und so sitzt man nach 63 Minuten da, mitten im apokalyptischen Staub, und denkt: Wenn die Welt schon vergeht, dann bitte mit genau diesem Album im Ohr.
Denn es mag sein, dass niemand diese Lieder je hören wird – doch wer ihnen jetzt lauscht, spürt die ganze Menschheit darin.
(8,5 Punkte)
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Pic: Lori Linstruth