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IQ – Ever

1993/2025 (Giant Electric Pea) - Stil: Prog Rock

Es gibt Augenblicke in der langen Geschichte des Progressive Rock, in denen eine Band sich neu erfindet und zugleich alles Vergangene mit einem Schlag in sich vereint. ´Ever´ ist ein solcher Moment. Für IQ bedeutete dieses Album 1993 nichts weniger als eine Wiedergeburt. Nach zwei Werken ohne ihren ikonischen Sänger, kehrte Peter Nicholls zurück – und mit ihm die Essenz dieser Gruppe. Mit ihm kam nicht nur die Erinnerung an frühere Glanzzeiten, sondern auch die alte Brillanz wieder zurück. Weite Melodien, dunkle Schattierungen, große Gefühle und jenes typisch britische Pathos, getragen von innerer Wahrhaftigkeit, waren wieder präsent.

Um die Bedeutung dieses Albums zu verstehen, muss man die Szenerie jener Zeit bedenken. Anfang der Neunzigerjahre war Progressive Rock tiefster Underground, ein fast vergessenes Kapitel. Der Mainstream blickte auf Grunge und Britpop, die großen Dinosaurier schienen Geschichte, und viele hielten die kunstvollen Klanglandschaften des Progressive Rock eigentlich schon seit den Achtzigerjahren für ein Relikt der Siebzigerjahre. Doch in diesen Jahren begann es auch wieder im Underground zu brodeln, alte und neue Bands bewahrten einen langen Atem. IQ waren in diesem Kreis spätestens ab 1993 wieder ein echter Fixpunkt – standhaft, kompromisslos und unbeirrbar. ´Ever´ war ihr neuerlicher Aufbruch, ihr Bekenntnis, dass Progressive Rock nicht nur überleben konnte, sondern im neuen Jahrzehnt eine unverbrauchte Stimme fand.

Schon die ersten bewegenden Takte von ´The Darkest Hour´ lassen keinen Zweifel, dass sich hier ein Drama von epischem Zuschnitt erhebt. Über mehr als zehn Minuten entfaltet die Band eine einmalige Tonlandschaft, die sofort in den Bann zieht. Mike Holmes’ Gitarre durchschneidet die majestätischen Keyboardwogen Martin Orfords. John Jowitt am Bass liefert pulsierende Linien, die das Stück vorwärtstreiben, während Paul Cook mit präzisem Schlagzeugspiel das Fundament legt. Im Zentrum aber steht Peter Nicholls – seine Stimme trägt die gesamte emotionale Last des Stücks (“If we are lost in paradise”), zerbrechlich und kraftvoll zugleich (“And he won’t hear me now in the darkest hour”). Sie wirkt, als spräche sie direkt aus dem Herzen, als taste sie nach Halt und kämpfe sich durch Dunkelheit (“Out of the way”). Peter Nicholls singt von Schmerz und der Suche nach Schutz, von alten Wunden, unterdrückten Ängsten und inneren Konflikte. Gegen Ende wandeln sich die zuvor stürmischen Themen in eine schwebende Klaviercoda, ein Nachklang, wie der letzte Schimmer einer Dämmerung, die noch lange im Gedächtnis bleibt (“And he won’t hurt me now, I know, when I’m losing all the power, and he won’t hurt me now in this darkest hour”), mit einer Stimme, die auf Sehnsucht und Verzweiflung am Ende doch noch eine leise Hoffnung und triumphierende Stärke folgen lässt.

´Fading Senses´ ist zweigeteilt, und genau darin liegt seine emotionale Kraft. Der erste Teil wirkt wie ein leises, introspektives Zwiegespräch zwischen Stimme und Tasten, pastoral, melancholisch, fast wie ein Blick auf vergangene Erinnerungen, die man kaum noch greifen kann. Peter Nicholls’ Worte – „And after all the days of fading senses, this has taken more than I had to give“ – spiegeln das Gefühl von Erschöpfung, die Last von erlebten Schmerzen und die Unsicherheit über den eigenen Weg wider. Man spürt das Ringen mit Verlust, Isolation und der Suche nach Halt. Doch die weiteren Worte – „If we face the one we’ve been avoiding, and I’m out of all control again, let me go“ – zeigen, wie sich das Ich seinen Ängsten stellt, die Kontrolle verliert, nur um am Ende stärker und bewusster daraus hervorzugehen. Denn dann bricht die Stimmung auf. Gitarren und Schlagzeug stürmen hervor, Martin Orfords Synthesizer wirbeln wie aufgewühltes Wasser, und die Harmonie des Anfangs zerreißt – ein innerer und musikalischer Aufschrei, der die unterdrückten Gefühle entfesselt. Das Lied wird zum Spiegel der Spannung zwischen Zerbrechlichkeit und eruptiver Wucht, zwischen verzweifelter Reflexion und leidenschaftlicher Entladung. So offenbart sich in ´Fading Senses´ die ganze Stärke von IQ. Sie verbinden zarte, introspektive Momente mit aufbrausender Intensität und machen die inneren Kämpfe, letztlich die Hoffnung fühlbar. Auf diese Weise kann Prog Rock zu einem Spiegel der menschlichen Seele werden.

Mit ´Out Of Nowhere´ öffnet sich der Klanghorizont des Albums in eine andere Dimension. Der Rhythmus ist direkter, der Ton heller, fast rockig, fast wie ein kurzer Rausch von Energie, bevor der große Bogen zu den epischen Weiten weitergesponnen wird. Unter dieser dynamischen Oberfläche glimmen jedoch die typischen IQ-Schattierungen – bittersüß, geheimnisvoll, von leiser Melancholie durchzogen. Die Worte spiegeln abermals eine innere Zerrissenheit, eine Suche nach Sinn und nach Erfüllung: „Is there something, something more than this? Inner tension, settled with a kiss.“ Peter Nicholls’ Stimme vermittelt diese Spannung zwischen Fragen, Sehnsucht und dem Drang, über sich selbst hinauszuwachsen. Auch die Gitarren- und Keyboardarbeit tragen dazu bei, dass das Stück zugleich eingängig und tiefgründig wirkt. ´Out Of Nowhere´ fungiert wie ein kurzer, energiegeladener Funke zwischen den introspektiven Tiefen von ´Fading Senses´ und dem monumentalen ´Further Away´.

Anschließend erhebt sich das zweite, monumentale Herzstück des Albums. ´Further Away´ spannt über vierzehn Minuten eine Klangarchitektur von seltener Dichte. Zu Beginn legt Martin Orfords Flöte zusammen mit leisen Keyboardfiguren einen Schleier über das Stück, über den Peter Nicholls mit beinahe gebrochener, verletzlicher Stimme von Verlust, Entfremdung und innerem Schmerz singt: „Torn from my hand, so heavy now you’re a world away, though they rage, these little lies, I’ve grown so cold“. Es ist ein Moment des Innehaltens, eine Stille vor dem Sturm, die den Hörer in eine fragile emotionale Sphäre zieht. Doch nach etwa drei Minuten bricht die Musik auf – mit einer Wucht, die majestätisch und wild zugleich wirkt. Mike Holmes’ Gitarre fährt wie ein Lichtstrahl durch das Dunkel, John Jowitts Basslinien schweben, pochen, drohen, und Paul Cook formt den Rhythmus kraftvoll und unaufhaltsam (“Passion killers and stocking fillers abound”). Bilder von Desorientierung, Bedrohung und existenzieller Unsicherheit entstehen im dynamischen Wechsel des vielschichtigen Arrangement. Immer wieder hebt sich die Musik in Passagen der Wut und Sehnsucht, nur um sich in solchen der Reflexion und Hoffnung zurückzuziehen. Die Gitarre, Keyboards, Bass und Schlagzeug verquirlen sich zu einem komplexen, seelenvollen Geflecht aus Klang und Gefühl. Am Ende verstummt die Musik, als hätte man eine lange Bandbreite menschlicher Emotionen in Klang und Struktur hinter sich gebracht – ein episches Meisterwerk, ein Triumph des Neo Prog.

´Leap Of Faith´ wirkt wie ein Moment der wahren Schönheit, eine Oase nach den intensiven, fast stürmischen Erlebnissen von ´Further Away´. Zunächst nur Piano und Stimme, Peter Nicholls trägt die Lyrics voller Zärtlichkeit und leiser Melancholie: „Though you may be now, a long way from home, all your hand-me-downs, live on in their dreams.“ Es ist ein Gesang von Erinnerung, von Verbundenheit über Zeit und Entfernung hinweg. Schicht für Schicht wachsen Gitarren und Keyboards, fügen sich zu einer Klanglandschaft, die strahlend und leuchtend wirkt. Die Lyrik verwebt sich mit den Instrumenten: „I can see something in that smile, in the way they play, they’re passing down the line, opening the tears and the emptiness“ – Bilder von unschuldiger Freude, von überlieferten Erinnerungen und dem unaufhörlichen Fluss menschlicher Erfahrung. Die Musik entfaltet sich zu einer emotionalen Sphäre, in der Zartheit und Erhabenheit ineinander fließen, in der selbst in den leisesten Passagen die Wärme pulsiert, die IQ so meisterhaft erzeugen, denn sie streicheln mit voller Hingabe die Seelen ihrer Zuhörer.

Nahtlos mündet der strahlende Aufstieg in ´Came Down´, dem letzten Kapitel des Albums. Die Musik verwebt sich zunächst zu einem melancholischen Schlussbild, das von Abschied und innerer Einkehr erzählt („All the memories that lead to isolation, all the time we didn’t share, when we set adrift half-forgotten lies. Will the madness still be there?“). Hier öffnet sich ein Raum, in dem Zeit, Erinnerung und Emotion in einem fließenden Atemzug zusammenkommen. Peter Nicholls’ Stimme trägt die letzten Worte mit Wärme, Nachdenklichkeit und einer Intimität, die nachhallt („Far away, we say goodbye, too many unremembered arms that won’t let go”). Es ist ein Abschluss, der Türen offen lässt – zu Erinnerungen, die nie ganz vergehen, zu Momenten, die in der Stille nachklingen (“Though starry-eyed, I know. This is still the garden where I came down.“). ´Came Down´ ist ein würdiger Schlusspunkt eines Albums, das von introspektiver Schönheit, epischer Weite und menschlicher Verletzlichkeit gleichermaßen getragen wird.

Mit ´Ever´ meldeten sich IQ nicht einfach zurück, sie errichteten ein Werk voller Tiefe und künstlerischer Reife, ein echtes Denkmal. Die Band klingt ernst, erwachsen, aber zugleich voller Strahlkraft. In der Tradition des Progressive Rock zeigt ´Ever´, wie sich der Progressive Rock in den Neunzigerjahren neu erheben konnte. Jede Note ist bedacht, jeder Übergang natürlich, jede Emotion echt.

Und nun erscheint dieses Meisterwerk als limitierte Doppel-LP erstmals im originalen Artwork, auf schimmerndem Aquamarine-Vinyl. 500 Exemplare nur. Eine Veröffentlichung, die das Album in jenes Format zurückbringt, das seiner Klangarchitektur am besten entspricht.

Mit ´Ever´ haben IQ ein unvergängliches Werk geschaffen. Es ist Ausdruck von Leidenschaft, von Sehnsucht und von künstlerischer Größe. Es ist ein Album, das seinem Titel gerecht wird: ´Ever´ – unsterblich im Geist des Progressive Rock.

(Klassiker)

https://www.facebook.com/IQHQLive

 

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