
BOB MARLEY AND THE WAILERS – Rastaman Vibration
1976/2025 (Analogue Productions) - Stil: Reggae
Rastaman Vibration –
Die Offenbarung im Widerstand
BOB MARLEY AND THE WAILERS – Rastaman Vibration
1976 / UHQR Reissue 2025
1976. Jamaika taumelt.
Politische Gewalt zerrüttet die Insel, paramilitärische Banden kämpfen im Auftrag der Parteien, Straßenzüge verwandeln sich in Schussfelder. Und Bob Marley? Er steht mitten darin – und über allem. ´Rastaman Vibration´ ist sein achtes Album, das erste, das in den USA die Top Ten erreicht. Der Durchbruch in Babylon.
Im Frühjahr 1976 legt sich eine fiebrige Hitze über Jamaika. Politische Gewalt eskaliert, die Insel taumelt zwischen Sozialismus und CIA-Paranoia, Wahlen stehen bevor, Schüsse hallen durch Kingston. Auf den Straßen kämpfen Banden, im Parlament kämpfen Parteien, in den Herzen kämpft die Hoffnung gegen die Verzweiflung.
Und mittendrin: Bob Marley. Nicht mehr nur Sänger, nicht mehr nur Trenchtown-Kid, sondern Prophet wider Willen. Die WAILERS sind keine Trio-Rebellen mehr. Tosh und Livingston sind gegangen. Zurück bleibt Bob – mit den Barrett-Brüdern als unerschütterliche Rhythmusmaschine, mit Al Andersons Gitarre, Earl „Chinna“ Smiths Riffs und Tyrone Downie an den Keyboards sowie Jean Alain Roussel an der Orgel. Mit Tommy McCooks Saxophon als Farbe – und über allem die I-Threes: Rita, Judy, Marcia, drei Stimmen wie ein Chor aus einer anderen Dimension.
Hier, in den Studios von Harry J. und Joe Gibbs, entsteht ´Rastaman Vibration´. Ein Album, das keine Flucht ist, sondern eine Front. Es klingt nicht nach Exil, sondern nach Standhaftigkeit. Nach dem Rastaman, der seine Stimme erhebt, nicht in Visionen, sondern im Hier und Jetzt.
Zwei Gesichter einer Platte – Von Radiohit bis Revolution
´Rastaman Vibration´ ist ein Album der Doppelbödigkeit. Oberflächlich scheint es zugänglich, eingängig und groovig. Die Platte bringt Bob Marley in die US-Top-10, mitten zwischen Disco und Corporate Rock. Darunter aber liegt Schmerz, Zorn und Warnung.
Seite A scheint fast freundlich: ´Positive Vibration´, ´Roots, Rock, Reggae´ – Songs, die klingen, als wollten sie Brücken bauen zum Radio. Doch schon hier steckt die Botschaft im Untergrund, denn Rastafari ist keine Folklore, sondern eine Lebenseinstellung. Musik ist nicht Unterhaltung, sondern Waffe.
Seite B ist kompromisslos: ´Crazy Baldhead´, ´Who The Cap Fit´, ´War´, ´Rat Race´. Keine Parabeln mehr, keine Allegorien. Hier spricht der Rastaman direkt. Hier singt Bob Marley nicht für die Charts, sondern für die Befreiung.
Positive Vibration – Die Fassade des Lichts
„Live if you want to live … Make way for the positive day.“
Mit diesem Mantra beginnt die Platte. Leichtfüßig, fast wie eine Einladung. Der Bass von Aston Barrett rollt weich, die Orgel von Jean Alain Roussel blüht auf, die Gitarren tanzen im Offbeat. Ein Wohlfühl-Groove, ein Lächeln im Angesicht des Sturms. Doch hinter der Melodie steckt Ernst. Positivität ist keine Stimmung, sie ist Überlebensstrategie. Rastafari bedeutet, selbst im Dunkeln Licht zu beschwören.
Bob Marley selbst formulierte es im Sommer 1976: “It’s not music right now, we’re dealing with a message.” Die Wiederholung von „Jah love“ schwebt wie ein Schutzschild über dem Song – eine Versicherung gegen Babylon.
Roots, Rock, Reggae – Der Hilferuf ans Radio
„Play I some music – this is reggae music.“
Ein Lied wie eine Einladung, fast poppig, beinahe zu einfach. Es ist Bob Marleys einziger US-Single-Hit, der es je in die Billboard Hot 100 schaffte. Oberflächlich ein Partytrack, im Kern ein Trojanisches Pferd. Rastafari im Radioformat. Tommy McCooks Saxophon weht wie ein Hauch Jazz über den Groove, während Jean Alain Roussel erneut die Hammond-Orgel schichtet. Bob Marley nutzt Babylon, um Babylon zu unterwandern. Musik als universales Recht, Roots als globale Sprache.
Johnny Was – Das Klagelied einer Mutter
Und dann: ´Johnny Was´ erzählt vom Sohn, erschossen auf der Straße, die Mutter weinend am Fenster. Keine Metapher, keine Allegorie – bloße Realität in Jamaikas Gassen. Aston „Family Man“ Barretts Bass stolpert wie ein Herzschlag, die Gitarren-Overdubs von Donald Kinsey weinen, die I-Threes klagen wie antike Choräle.
„The wages of sin is death“ – eine biblische Mahnung mitten ins Blut. Bob Marleys Stimme bleibt ruhig, fast distanziert, gerade dadurch erschütternd. Es ist einer der bewegendsten Songs in Marleys Werk – eine Ballade, die weniger singt als trauert.
Cry To Me – Ein Seufzer zwischen den Kämpfen
“You got to cry, cry, cry to me, yeah.”
Zwischen Zorn und Trauer flackert Zärtlichkeit. Ein altes WAILERS-Stück, neu aufgenommen. Kurz, zärtlich, fast zu leicht nach dem Schmerz von ´Johnny Was´. Doch vielleicht ist es genau das: ein Atemholen, ein kurzer Trost, ein Rest von Soul inmitten der Härte.
Want More – Die Rastaman-Ökonomie
„Now you get what you want, do you want more?“
Ein Song über Gier, über ein System, das nie satt wird. Bass und Schlagzeug pulsieren wie eine Maschine, die nie stoppt. Aston Barrett legt eine Linie, die wirkt wie Herzschlag und Anklage zugleich. Bob Marley singt nicht nur über Jamaika, er singt über Babylon, über Kapitalismus, über eine Welt, die nimmt und nie genug hat.
Crazy Baldhead – Die Feindbilder werden benannt
Ein Schrei zu Beginn, dann der Groove. „We’re gonna chase those crazy baldheads out of town.”
Ein Lied, das wie ein Spottlied klingt – und doch voller Bitterkeit ist. „Baldheads“ – das sind die Unterdrücker, Politiker, Kolonialerben, Marionetten des Systems. Hier werden Namen nicht genannt, aber jeder in Kingston wusste, wer gemeint war. Carlton Barretts Schlagzeug schneidet dementsprechend wie eine Machete.
Who The Cap Fit – Das Lied der Paranoia
„Man to man is so unjust.“
Ein Sprichwort wird zum Fluch: Verrat, Neid, Intrigen – Bob Marley kennt sie alle. Das Cap – die Kappe – passt jedem, der sich schuldig fühlt. Die Band kreist hypnotisch, die I-Threes antworten wie Richterinnen im Hintergrund. Ein paranoides Spiegelbild einer Gesellschaft im Bürgerkrieg.
Night Shift – Das Lied des Unsichtbaren
“Working on a night shift, with the forklift.”
Ein Reggae-Blues über Arbeit, Schichtdienst, Entfremdung. Marley singt von der Nachtarbeit wie ein Prediger über Sklaverei. Ein schlichtes Alltagslied, das zur Allegorie wird: Babylon lebt von der Mühsal der Vielen.
War – Die Rede wird zur Liturgie
Der Kern des Albums. Kein Song im klassischen Sinn, sondern eine Predigt. Fast wortwörtlich übernommen aus Haile Selassies Rede vor den Vereinten Nationen 1963: „Until the philosophy which holds one race superior and another inferior is finally and permanently discredited and abandoned – everywhere is war.“
Bob Marley spricht nicht – hier spricht Selassie, hier spricht Jah. Die Band stampft wie ein Tribunal, die Orgel leuchtet wie eine Kanzel, die I-Threes antworten wie ein Kirchenchor. Reggae als Manifest, Politik wird Liturgie.
Rat Race – Das letzte Urteil
„In the abundance of water, the fool is thirsty.“
Mitten ins Herz der globalen Ungerechtigkeit. Kein Symbolismus, keine Verklärung. Bob Marley benennt, was jeder in Jamaika sah: Wahlen, Banden, Blut. Und dann der ikonische Satz: „Rasta don’t work for no CIA.“ Bob Marley macht klar: Er ist niemandes Werkzeug. Nur ein Rastaman mit einer Botschaft.
UHQR 2025 –
Klangreplik einer Anklage
Fast fünfzig Jahre später erscheint ´Rastaman Vibration´ als UHQR in 45 RPM, Clarity Vinyl, zwei Scheiben – limitiert, nummeriert, audiophil. Eine Pressung wie ein Sakrament.
Der Klang ist eine Offenbarung: der Bass rollt erdiger, die Stimmen der I-Threes schweben körperlich im Raum, Percussion und Gitarre treten mit einer Klarheit hervor, die jede Nuance zeigt. ´Johnny Was´ wird zu einem Schockmoment, ein Lied, das den Atem anhält. ´War´ klingt, als stünde Selassie selbst am Pult der Vereinten Nationen.
Die Verpackung – dünner, diskutiert, fast kontrovers. Doch die Pressung? Ein Monument. Wer sie hört, weiß: Das hier ist kein Reissue. Das ist eine Wiedergeburt.
Schluss – Prophet im Hier und Jetzt
´Rastaman Vibration´ ist das Album, in dem Marley seine Stimme erhebt – ohne Allegorien, ohne Fluchtwege, ohne Umwege. Es ist das Manifest vor dem Exil, der unmittelbare Ruf eines Mannes, der zwischen Kugeln und Wahlkampf steht und trotzdem singt.
Ein Jahr später wird ´Exodus´ folgen – größer, weiter, mystischer. Doch hier, 1976, spricht Marley nicht als Exilant, sondern als Kämpfer in Babylon. ´Rastaman Vibration´ ist kein Popalbum, es ist ein Fels. Es ist die Stimme des Rastaman – mitten im Feuer, mitten in Jamaika, mitten in der Welt.
Und sie vibriert bis heute.
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