
Berlin, Bahnhof Zoo, 1980. Da steigt sie aus dem Mitropa-Zug. Annette Humpe, blond, Krawatte locker, Augen scharf wie ein Küchenmesser. Zurück in ihrer Stadt. Zurück in dem Chaos aus WG, Billigkaffee, Mief und Aufbruch. An ihrer Seite eine Band, die nicht wartet, sondern rausbrüllt, die nicht spielt, sondern wie eine Rasierklinge durchs Schweigen der Spießerwelt zieht. IDEAL. Vier Leute. Kein Theater. Keine Maske. Nur Rückgrat. Nur Ton. Nur Wirklichkeit.
IDEAL, das war West-Berlin in Reinkultur. Dreckig, direkt, desinteressiert an all dem Krempel, der da draußen NDW genannt wurde. Während andernorts die Welle kam, surften sie mit unbeugsamem Gewicht gegen den Strom. Kein Hitparaden-Glitzer, kein Fransenjacket – nur wie Rasierklingen durch die Haut schneidende Gitarren und Bassläufe wie das Summen von Stromleitungen, darüber Annette Humpes Stimme, halb gesungen, halb gesprochen, voll gemeint.
Mit ´Ideal´ bringen sie 1980 ihr Debüt heraus, noch vor der kommerziellen Welle. Die LP läuft auf 45 rpm – ein audiophiler Fuck-off an die Langweiler der Industrie. Produziert von Klaus D. Mueller und untergebracht bei Electronic-Papst Klaus Schulze. Ein Überraschungsbaby der Punk-Spätfolgen. Musik, die klingt, als hätte man im Treppenhaus mit der Faust gegen die Wand geschrieben.
Der Opener ‘Berlin´ ist keine Hymne, ist ein Manifest. Bahnhof Zoo, Kudamm, Hinterhöfe, Philosophen. Das Ganze klingt wie eine Liebeserklärung auf Speed, und auch nach 45 Jahren kann man noch jede Zeile mitsingen. Männerchor trifft Staccato‑Refrain. Immer wieder Zeichen setzende Synthesizer, aber auch diese schneidende Gitarre. Und hinten raus das glasklare: “Ich steh auf Berliiiiiiin!” Ja, das kann man auch 2025 noch so fühlen.
Doch Annette Humpe protokolliert auch den Zusammenbruch sexueller Doppelmoral, die Spannung zwischen Freiheit und Moral. ‘Irre´ ist der Soundtrack zum emotionalen Ausnahmezustand, nüchtern, bitter und präzise wie ein Beziehungs‑Report in Moll mit treibendem Beat, markanter Basslinie und knappen Synth-Texturen.
Jeder Track ist ein kleiner, heißer Trip, eine Großstadt-Alptraumvision, so wie ‘Telepathie´, mit seiner düsteren Psychospannung voll von klaustrophobischer Nervosität, die erst im weiteren Verlauf etwas Luft aus dem 13. Stock holen lässt, mit minimalistischen Synth-Rhythmen, verzerrten Gitarren und Eff Jotts hallendem Sprechgesang.
´Blaue Augen´, eigentlich mal für die NEONBABIES gedacht, wird zur NDW-Hymne wider Willen. Doch Annette Humpe singt keinen Kitsch, sie meint das alles ernst. Kein doppelter Boden, keine Ironie. Nur Gefühle, die allein von blauen Augen ausgelöst werden. Und ihre Stimme ist wie Berlin selbst, etwas neben der Spur, immer ehrlich, nie nett.
Wenn jedoch Eff Jott Krüger das Mikro übernimmt, wird es fies. ‘Hundsgemein´ ist kein Song, das ist Rache, instrumentale Aggression und sprechgesungene Wut. “Hast in den Safe gefasst, mein letztes Geld verprasst – alles ohne mich!” Dann noch Lachs im Ritz, Sekt mit von Hohenstaufen – alles ohne ihn. Dazu Gitarren wie rostige Messer und ein Flügelhorn, das sich durch die Ohrmuschel bohrt. Wenn Wut Musik wäre, sie klänge genau so.
Und dann der nächste Trip, purer ‘Luxus´ im Rausch. Purer Sarkasmus auf einem goldenen Tablett. Ein Fiebertraum aus Champagner und Schweiß. “Totaler Luxus kann mich retten”, klingt wie ein Slogan, ist aber der Abgesang auf eine ganze Gesellschaft.
´Rote Liebe´, Titelsong für Rosa von Praunheims Film, zerrt die großen Themen durch die U-Bahn‑Schächte der Großstadt: gesellschaftliche Rollen, Sexualität und Konsum. Sirene zu Beginn und Annette Humpe singt: “Ich will wie neu sein. Mal Mann, mal Frau sein” – und niemand in Westdeutschland hatte das damals so glasklar, so kompromisslos formuliert.
Ein Lied über Eskapismus mit einem Rhythmus wie ein schleifendes U-Bahn-Tor ist der nächste Evergreen: ´Da leg ich mich doch lieber hin´, “denn so hat alles kein Sinn”. Eskapismus als Haltung, deprimiert, ruhender Atem, ein Horizont ohne Stimme und doch vom Groove getragen.
´Telephon´, hysterisch und verzweifelt. Was ein Groove, welch coole Synthesizer. Eine Frau klebt am Hörer, wartet auf einen Anruf, der nie kommt (“Warum rufst du mich nicht an? Ich sitze hier im halben Wahn”). Echt? Ganz sicher. Musikalisch so elektrisiert wie emotional ausgehungert.
Und dann noch ein Song, der Luxus als Fassade entlarvt: ‘Roter Rolls Royce´, das Auto der inneren Leere, äußerlicher Glanz ohne Substanz, musikalisch zwar geradlinig (“Wenn Motorheulen mit Musik sich mischt”), aber thematisch kaputt glänzend (“Hau ich ab und komm nie zurück”).
IDEAL waren ein musikalisches Puzzle. Annette Humpe am Keyboard, minimalistisch, aber nie kalt. Eff Jott (†) mit Gitarren, die klangen, als kämen sie aus der Wand vom SO36. Bassist Ernst Deuker spielte trocken wie Asphalt in der Mittagssonne am Heinrichplatz, und Hansi Behrendt (†) trommelte, als wäre er auf der Flucht vor sich selbst.
Annette Humpe war nie Popstar, sie war Architektin. Mit Haltung statt Hüftschwung. Das war deutschsprachiger Pop mit Hirn, aber ohne Akademikerscheiß. Sie wollte keine Pop-Ikone sein. Und wurde eine, genau deshalb. Und ihre Songs waren immer echt. So nackt wie die Berliner Häuserwände.
45 Jahre später kommt der “2025 Mix” und die Platte klingt nicht nur wie damals – sie klingt wie heute. Produzent Moritz Enders (u.a. Casper, Kraftklub) hat das Ding mit alter Technik, aber frischem Ohr überarbeitet. Kein Bass-Boost, kein Plastikfilter, nur klarer, druckvoller, näher dran. So, als hätte man 1980 ein Fenster geöffnet und vergessen, es zuzumachen. ´Berlin´ schnauft jetzt noch mehr wie die U1. ´Hundsgemein´ hat eine neue Schärfe in den Ecken. Und ´Blaue Augen´ – verdammt, die Augen sind wirklich wieder da.
´Ideal´ war nie Nostalgie. Es war immer ein Lebensgefühl und ein Soundtrack für alle, die auf West-Berliner Balkonen mit Kippe im Mund ihre Sätze halb zu Ende dachten. Der “2025 Mix” macht nichts neu, aber alles wieder wichtig. Ein Album wie ein Plakat an der Häuserwand: “Hier wohnt kein Spießer”.
Also. Hören. Immer wieder. Laut. Und dann? Vielleicht ganz einfach: Da leg ich mich doch lieber hin.
(Klassiker)