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MIKE OLDFIELD – Hergest Ridge

1974/2025 (Universal) - Stil: Klassischer Prog Rock

Der unerwartete Erfolg von ´Tubular Bells´ traf Mike Oldfield im Jahr 1973 völlig unvorbereitet. Der damals erst 20-jährige, außergewöhnlich talentierte Musiker hatte Schwierigkeiten mit dem plötzlichen Ruhm und dem öffentlichen Interesse umzugehen, da er eher introvertiert und ganz in seine Musik vertieft war. Anstatt das Rampenlicht zu genießen, zog er sich in die Stille von Herefordshire zurück, einer Grafschaft von beruhigender Schönheit, um dort sein zweites Album zu realisieren: ´Hergest Ridge´.

Das Ergebnis war ein beeindruckendes Musikbild von fast überirdischer Schönheit, war ein musikalischer Rückzug in die Natur, fernab von den Erwartungen der Öffentlichkeit, aber erfüllt von innerer Ruhe und poetischen Klängen. Während ´Tubular Bells´ eher wie eine Sammlung von einzelnen instrumentalen Miniaturen wirkte, war ´Hergest Ridge´ in seiner Struktur deutlich einheitlicher und wie aus einem Stück gefertigt. Die beiden Seiten der LP – einfach ´Part One´ und ´Part Two´ genannt – folgten dem Prinzip der sinfonischen Dichtung. Es gab wenige Hauptmotive, die aber über fast 40 Minuten hinweg in verschiedenen Stimmungen, Tempi und Klangfarben variiert wurden. Der Einfluss von klassischen Komponisten wie Vaughan Williams, Gustav Mahler oder Mike Oldfields Lieblingskomponist Jean Sibelius war spürbar, ohne dass das Album in die Nähe einer bloßen Nachahmung gelang.

Die Musik war strukturell komplexer als auf ´Tubular Bells´, melodisch ausgereifter und kompositorisch zusammenhängender. Mike Oldfield entwickelte seine Themen mit einer Klarheit und Konsequenz, die in der damaligen Rockmusik außergewöhnlich war. Die Entwicklung der musikalischen Themen folgte einer inneren Geschichte, die nicht auf einfache Wiedererkennbarkeit oder eingängige Melodien setzte, sondern auf sanfte Veränderungen.

Auch harmonisch war das Werk vielschichtiger gestaltet. Mike Oldfield verwendete eine reichhaltigere musikalische Sprache mit gezielten Dissonanzen und kontrapunktischen Elementen. Dennoch blieb das Klangbild stets klar und durchsichtig. Unterstützung erhielt er, während er die meisten Instrumente wieder selbst einspielte, von seinem Bruder Terry Oldfield (Flöte), Clodagh Simonds und Sally Oldfield (Gesang) sowie David Bedford, der erneut für die orchestralen Arrangements zuständig war.

Aktuell, quasi ein Jahr zu spät zum eigentlichen Jubiläum, erscheint ´Hergest Ridge´ in einer frischen Vinyl-Version. Das Besondere an dieser neuen Veröffentlichung ist, dass zum ersten Mal beide wichtigen Versionen des Albums auf Vinyl vereint sind. Da ist zum einen der Originalmix von 1974, der von Miles Showell (“Abbey Road Studios”) mit halber Geschwindigkeit neu gemastert wurde. Und zum anderen Mike Oldfields Remix aus dem Jahr 2010, den es bislang nicht auf Vinyl gab.

Die beiden Versionen ergänzen sich auch prächtig. Der Originalmix klingt sanfter und geheimnisvoller, fast wie ein verborgener Schatz. Der 2010er Remix hingegen bringt viele Details ans Licht, die man vorher kaum gehört hat.

Pressung und Klang sind ebenso völlig ohne Fehl und Tadel, allein die Ausstattung mit einem kurzen Gruß von Mike Oldfield ist schlicht ausgefallen. Dennoch ist diese Veröffentlichung mehr als nur eine Wiederauflage. Sie zeigt ´Hergest Ridge´ von einer neuen Seite, einem oft unterschätzten Album. Es ist ein Werk zwischen ruhigen, persönlichen Momenten und großen, orchestralen Klängen. Und auch 51 Jahre nach seiner Entstehung hat es nichts von seiner Wirkung verloren.

Der erste Teil beginnt mit einem geheimnisvollen Klang, getragen von Glockenspiel, Flöten, Bläsern und Orgel, aus dem sich eine sanfte, fast ländliche Melodie entwickelt. Nach und nach kommen Bass und Gitarre hinzu, später eine zarte Oboenlinie und eine Trompetenmelodie, bis das Stück von Röhrenglocken, Schlittenglocken und einem E-Gitarrensolo begleitet in einem Höhepunkt aus schwebenden Chören und Röhrenglocken ausklingt. Die Stimmung ist harmonisch, naturverbunden und entrückt. Beim Zuhören hat man fast das Gefühl, Mike Oldfield selbst über die grünen Hügel wandern zu sehen, begleitet von seinem Wolfshund Bootleg.

Der zweite Teil hingegen konfrontiert diese friedliche Szene mit Gegensätzen. Erst vereinen sich die Akustikgitarre und eine mehrfach modulierende Orgel, gefolgt von einer schnellen und virtuosen E-Gitarre, flatternden Mandolinen, treibenden Rhythmen, einem kurzen Streicherstück, ehe der berühmte Sturm aus einem riesigen Geflecht von über hundert übereinander gelegten Gitarrenspuren ausbricht. Eine E-Gitarre führt das Stück darüber hinweg, in einen feierlichen Abschnitt zu Flöte, Akustikgitarre und Chor mit Orgel. Ein überwältigender Moment, der in eine melancholische Schlusspassage führt.

Es ist Musik, die niemals aufdringlich ist, sondern entdeckt werden will und dann mit einer Tiefenwirkung belohnt. Denn ´Hergest Ridge´ ist subtiler, leiser und weniger auf schnelle Effekte aus. Es ist Mike Oldfields persönlichstes Werk, voller feiner Klänge, getragen von einer fast spirituellen Verbindung zu der Landschaft, aus der es entstanden ist – und es ist gegenüber seinem berühmteren Vorgänger ohnehin vielleicht sogar das reifere, ehrlichere Werk.

Es ist Musik, die auf der Flucht vor der Öffentlichkeit entstand, Musik als Versuch, musikalisch zur Ruhe zu kommen, aber vor allem ist es ein künstlerisches Statement. Daher wirkt ´Hergest Ridge´ oftmals wie ein Werk aus einer anderen Welt und ist gerade deshalb für viele das schönste, berührendste und geschlossenste Album von Mike Oldfield, voller Klarheit, Melancholie und innerer Größe.

(Klassiker)

https://www.facebook.com/MikeOldfieldOfficial

 

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