MeilensteineVergessene Juwelen

TIBET – Tibet

1979/2015 (Sireena Records) – Stil: Prog Rock

In den frühen Siebzigerjahren trafen sich in der ruhigen Stadt Werdohl ein paar Jugendliche, um gemeinsam der Musik zu frönen. Niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass sie eine der spannendsten Bands der deutschen Progressive Rock-Szene gründen würden. Aufgrund fernöstlich klingender Instrumente wie Sitar, Flöten und Tablas wählten sie den Bandnamen TIBET.

Jürgen „Pöngse“ Krutzsch war der Dreh- und Angelpunkt der Band, zuerst als Organist, dann auch als Komponist und kreativer Kopf. Nach seinen ersten Erfahrungen in lokalen Bands wie FINE ART und NOSTRADAMUS fand er in Karl-Heinz “Zinken” Hamann am Bass und Dieter Kumpakischkis an den Tasten neue Mitstreiter. Sein Schulfreund Fred “Teppich” Teske kam dazu, der zwischen Gitarre und Schlagzeug wechselte.

Anfangs trat die Band nur als Instrumentalgruppe auf. Sie probten im Jugendclub Schrottkeller, der schnell zum wichtigen Treffpunkt für die Szene wurde. Hier entwickelten sie nicht nur ihren Sound, sondern auch ihr Selbstbewusstsein als Gruppe. Als Detlef “Bertel” Ballin als zweiter Keyboarder und Sänger Klaus “Schatz” Werthmann dazukamen, wuchs auch der Sound. Mit klassischem Rock-Equipment und Instrumenten wie Mellotron und Hammond-Orgel schufen sie einen mächtigen Klang. Die fernöstlichen Instrumente waren passé.

Zwischen 1976 und 1979 nahmen sie ihr einziges Studioalbum in mehreren Phasen auf, immer dann, wenn sie das Budget hatten. Ihr selbstbetiteltes Album erschien 1979 bei “Bellaphon”, vermittelt durch Jürgen Wigginghaus, der später den Metal Hammer gründete. Die Scheibe bot melodischen Progressive Rock, der stark an britische Bands wie GENESIS, CAMEL und PINK FLOYD erinnerte. Es war kein durchstrukturiertes Werk, sondern eher eine Sammlung von Ideen, die über die Jahre gewachsen waren.

Mit ´Fight Back´ beginnt das Album in einem kraftvollen, symphonischen Rocksound, der durch Gitarren-Arpeggien, starke Synthesizer und einen treibenden Bass geprägt ist, was etwa an ELOYs ´Poseidon’s Creation´ oder natürlich GENESIS erinnert. Der Song, der schon 1975 live gespielt wurde und somit musikalisch sowie emotional tief in der Anfangszeit der Band verwurzelt ist, dreht sich um die Themen Widerstand und Selbstbehauptung und ist der einzige auf dem Debüt vom Goethepark-Konzert. Dagegen tönt ´City By The Sea´ rhythmisch klarer und moderner, mit treibenden Synthesizer-Mustern, die an Bands wie SAGA oder GROBSCHNITT erinnern. Der Song beschwört in einer Pomp Prog-Ballade die Stimmung einer Küstenstadt herauf und bringt ein Gefühl von Sehnsucht und Einsamkeit mit sich.

´White Ships And Icebergs´ ist ein episches Instrumental-Stück mit wechselnden Tempi und Stimmungen. Mächtige Mellotrone, ein kraftvoller Bass und filmische Klänge erinnern an GENESIS’ ´Watcher Of The Skies´. Die bildreiche Geschichte über Schiffe und Eisberge kann als Metapher für emotionale Kälte oder gesellschaftlichen Stillstand angesehen werden, entfaltet sich über mehrere Abschnitte, auch mit unheilvoller Akustikgitarre, und ist eines der ambitioniertesten Stücke des Werkes. ´Seaside Evening´ ist ein atmosphärisches Stück, das stark vom Synthesizer getragen wird. Eine ruhige Gitarrenfigur und weiche Keyboardflächen schaffen eine nostalgische Stimmung mit klanglicher Zurückhaltung und feiner Melodieführung. Stilistisch ist diese ruhige, introspektive Momentaufnahme nicht weit von ELOY und NOVALIS entfernt.

Ein weiteres episches Prog-Stück ist ´Take What’s Yours´ mit harter Rockkante, was an BIRTH CONTROL erinnert. Ein komplexer Aufbau und eine große Spannweite zwischen aggressiven Passagen und sphärischen Instrumentalteilen beeindrucken bei diesem musikalischen Appell, das Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. ´Eagles´ mischt sodann die symphonischen Rockelemente mit psychedelischen Anleihen, in Anlehnung an GENESIS und PINK FLOYD. Der Adler, der im Mittelpunkt steht, zieht seine instrumentalen und heroischen Bahnen und symbolisiert wahrscheinlich die Freiheit. ´No More Time´ schlägt eher in den Bereich der klassischen Hardrock-Bands wie URIAH HEEP oder BIRTH CONTROL. Dabei beschäftigt sich der Song mit dem Druck der Vergänglichkeit und unterstreicht dies energiereich und direkt.

Während viele ihrer Songs aus den frühen Tagen im Bandarchiv schlummerten, fanden sich auf ihrem selbstbetitelten Debüt vor allem neuere Stücke wieder. Glücklicherweise wurde kürzlich ihr verloren geglaubtes Live-Konzert von ihrem legendären Auftritt 1975 beim “Goethe-Open-Air” aufwendig restauriert veröffentlicht. Diese Aufnahmen zeigen eine junge Band, die trotz mancher Probleme mit Schlafmangel und nassem Equipment eine packende Live-Performance abliefert. Denn TIBET waren nicht nur eine Studiogruppe, sie spielten ständig live und traten auf Bühnen mit Größen wie ELOY und den SCORPIONS auf, aber auch mit internationalen Acts wie TRAFFIC. Besonders die England-Tournee mit ihrem Auftritt beim “Watchfield Festival” zählt zu den Höhepunkten. Dort spielten sie als einzige Band des Abends zwei Zugaben und ließen ein frenetisches Publikum zurück.

Der Schritt in eine größere Karriere scheiterte letztendlich an den typischen Herausforderungen: Unsicherheit, berufliche Verpflichtungen und Erschöpfung. Ein Angebot von Mickie Most, einem wichtigen britischen Produzenten (ANIMALS, YARDBIRDS, Jimmy Page und Jeff Beck), wurde unglücklicherweise abgelehnt. Als das Album endlich herauskam, war der Schwung weg. Die Band zerfiel, und die Mitglieder verfolgten unterschiedliche Wege – sei es in der Musik, als Techniker, Ärzte oder Künstler.

Doch TIBET lebt weiter. Als Zeitzeugnis, als gut produziertes Album und als Erinnerung an eine Zeit, in der Musik mit Leidenschaft und Experimentierfreude gemacht wurde. Ein echtes Juwel.

https://www.facebook.com/tibet.progressiverock

Schatz (Klaus Werthmann) – Gesang
Bertel (Detlef Ballin) – Keyboards
Zinken (Karl-Heinz Hamann) – Bass
Teppich (Fred Teske) – Schlagzeug
Pöngse (Jürgen Krutzsch) – Gitarre

 

 

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