
THELONIOUS MONK – Brilliant Corners (Small Batch, One-Step Pressing)
1957/2023 (Craft Recordings/Riverside Records) - Stil: Jazz
Wir schreiben das Jahr 1956, Oktober, New York City. In einem kleinen Studio in der 46. Straße, weit weg von den großen Hallen, beginnt eine bisweilen schmerzhafte, aber extrem wichtige Aufnahmesitzung der Jazzgeschichte. Produzent Orrin Keepnews sitzt aufgeregt hinter der Glasscheibe. Vor ihm: Thelonious Monk am Klavier, Sonny Rollins am Tenorsaxophon, Ernie Henry am Altsaxophon, Oscar Pettiford am Bass, und Max Roach am Schlagzeug – ein mehr als außergewöhnliches Quintett. Für heute sind die Aufnahmen von ´Brilliant Corners´ vorgesehen. Ein gewagtes Vorhaben, da die Komposition selbst für solche Großmeister schwer zu bewältigen ist.
´Brilliant Corners´ ist kein gewöhnliches Jazz-Stück. Es ist ein 22-taktiger Blues, der in eine 8-7-7 Struktur zerfällt, mit plötzlichen Tempo- und Akzentwechseln, die die gewohnte Form aufbrechen. Sonny Rollins und Max Roach gehen die schwierige Komposition mit Disziplin an. Ernie Henry hat Mühe, die Melodie zu meistern, und Thelonious Monk platziert Stolpersteine für die Solisten. Oscar Pettiford ist so frustriert, dass er Monk vorwirft, nicht genug Takte geschrieben zu haben. Doch genau die fehlende Struktur ist Absicht. Das Stück ist kein klassisches Muster, sondern ein Labyrinth, das ständig in Bewegung bleibt. Max Roachs Solo, bei dem die Band kurz pausiert, ist ein Moment der rauen Studio-Realität – und trotzdem klingt alles fertig. Nach über 20 Takes bleibt nur eine Aufnahme übrig, die aus mehreren Teilen zusammengeschnitten wird – ein ungewöhnlicher Schritt für die damalige Jazzproduktion, der das Genie und die Verrücktheit des Albums perfekt einfängt.
Was Produzent Orrin Keepnews zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch nicht so richtig klar ist: Mit ´Brilliant Corners´ bringt Thelonious Monk den Jazz auf ein ganz neues Level. Dieses Album ist nicht einfach nur eine Sammlung von Standards mit Improvisationen, sondern ein echtes Kunstwerk, das eine Balance zwischen Struktur und Freiheit sowie zwischen Exzentrik und Stil bietet.
Dass Thelonious Monk 1956 ein solches Werk erschaffen konnte, war alles andere als klar. An diesem Punkt schien seine Karriere ins Stocken geraten. Zwei zugängliche Alben mit Standards, die er auf Wunsch von Produzent Orrin Keepnews aufgenommen hatte, waren künstlerisch wie kommerziell nicht erfolgreich. Thelonious Monk schien gegen sich selbst zu spielen. Der Wendepunkt zum jetzigen Zeitpunkt kam überraschend. Ein Wohnungsbrand zerstörte Thelonious Monks Klavier. Die Baroness Pannonica de Koenigswarter, eine leidenschaftliche Jazzliebhaberin, bot ihm ihr Apartment an der Upper West Side an. Dort stand ein Steinway, und viele der Kompositionen für ´Brilliant Corners´ entstanden auf diesem. Thelonious Monks Vertrauen zu Pannonica und die kreative Freiheit brachten ihn wieder auf Kurs.
Für die drei Sessions im “Reeves Sound Studio” stellt Thelonious Monk ein Quintett zusammen, das auf dem Papier wie ein All-Star-Team aussieht: Sonny Rollins, auf dem Höhepunkt seines Schaffens, Ernie Henry, ein talentierter, aber mit Drogenproblemen kämpfender Musiker, Oscar Pettiford, ein alter Weggefährte, und Max Roach, der nach dem Verlust von Clifford Brown neue Wege sucht. Aber die Zusammenarbeit ist nicht einfach. Besonders die Aufnahme von ´Brilliant Corners´ stellt alle auf die Probe.
Daneben wird ´Ba-Lue Bolivar Ba-Lues-Ar´ aufgenommen, ein weiterer Blues von Thelonious Monk, der mit Traditionen spielt. Die Form sieht zuerst nach einem AAB-Schema aus, doch Thelonious Monks rhythmische Akzente machen das Zählen zum Abenteuer. Die Band scheint förmlich durch den Titel zu fließen. Der Name selbst verweist auf das Hotel Bolivar, wo seine Mäzenin Pannonica lebt und die Hotelverwaltung regelmäßig mit nächtlichen Jam-Sessions auf Trab hält. Es ist also auch ein kleiner ironischer Seitenhieb.
Seiner gönnerhaften Freundin widmet Thelonious Monk sogar die gleichnamige Komposition ´Pannonica´, eine sanfte Ballade. Im Studio findet er obendrein eine Celesta, ein glockenartiges Instrument, und spielt kurzerhand Klavier und Celesta gleichzeitig. Das Ergebnis klingt schwerelos und fast traumhaft. Zwischen Thelonious Monks Melodien und dem metallischen Glanz der Celesta entsteht ein berührender Moment in der Jazzgeschichte. Der einzige Standard ist hernach ´I Surrender, Dear´, gespielt von Thelonious Monk solo am Klavier. Keine Übertreibungen, kein Pathos, nur zurückhaltende Verschiebungen und leise Anspielungen. Es erweckt den Anschein eines intimen Gesprächs mit sich selbst.
Selbst der Abschluss ´Bemsha Swing´ sorgt nochmals für neue Perspektiven. Bereits 1952 aufgenommen, erhält das Stück für ´Brilliant Corners´ eine frische Interpretation. Clark Terry ersetzt den überforderten Ernie Henry, und Paul Chambers springt für Oscar Pettiford ein. Max Roach erweitert sein Schlagzeug um Pauken, was dem karibischen Rhythmus neuen Schwung verleiht. Dieser frische Zugang bringt weitere Farben in das Stück, ohne die Grundzüge zu verlieren. Somit verwandelt Thelonious Monk eigentlich Vertrautes ins Unbekannte.
´Brilliant Corners´ wird zu Thelonious Monks erstem anerkannten Meisterwerk. Das Publikum beginnt von Stund an, seine komplexe Musik zu schätzen. Fast siebzig Jahre nach der Veröffentlichung von ´Brilliant Corners´ gibt es jetzt eine neue Klangdimension, um das Werk lieben zu lernen.
Das “Small Batch One-Step Pressing” von “Craft Recordings” gehört zu den High-End-Maßstäben der Schallplattenproduktion. Bei einer “One-Step-Pressung” wird die Schallplatte in einem Schritt direkt vom Masterband auf die Pressform übertragen und reduziert somit die Replikationsverluste auf ein Minimum. Ohne Zwischenschritte führt die “One-Step-Technik” zu einer direkteren Klangausgabe. Eine deutliche Steigerung von Klarheit und Präzision beim Hören sind der eindeutige Mehrwert. Jeder Schlag von Max Roach klingt so klar, dass er fast greifbar ist. Thelonious Monks Klavierakkorde zeigen Nuancen, die man vorher oft nicht gehört hat. Der Klang wirkt insgesamt leichter und detaillierter, die Klangfarbe kommt lebendiger rüber, ohne die ursprüngliche Energie und den improvisierten Charakter der Aufnahmen zu verlieren. Gegenüber früheren Pressungen bringt diese jedes Instrument mit voller Tiefe zur Geltung. Für echte High-End-Musikhörer und Sammler ist diese “One-Step-Edition” ein großartiges Erlebnis. Sie hebt ´Brilliant Corners´ auf ein neues Level und vermittelt das Gefühl, unmittelbar neben den Musikern im Studio zu sitzen.
´Brilliant Corners´ ist kein steinernes Denkmal. Es lebt, atmet und erzählt von sich. Mit diesem hat Thelonious Monk ein Werk erschaffen, das alle Regeln bricht und gleichzeitig selbst zur Regel wurde. Kein Album spiegelt seinen wilden und heiteren Geist so sehr wider.
(Klassiker)
https://www.facebook.com/theloniousmonk