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ELTON JOHN – Captain Fantastic And The Brown Dirt Cowboy

1975/2025 (Rocket Entertainment/Universal Music Recordings) - Stil: Pop/Rock

Elton John stand Mitte der Siebzigerjahre an einem Punkt, an dem Erfolg und Überforderung kaum noch zu trennen waren. Die Welt lag ihm zu Füßen, doch in ihm selbst war etwas in Bewegung geraten – ein Bedürfnis nach Rückbesinnung, nach einer Erzählung, die nicht erfunden, sondern gelebt war. Bernie Taupin spürte dasselbe, und so fanden die beiden zurück zu ihren Anfängen, zu jenen unscheinbaren, manchmal schmerzhaften Momenten, in denen aus zwei jungen Männern die Figuren wurden, die später als “Captain Fantastic” und “Brown Dirt Cowboy” zur eigenen Legende heranwuchsen.

Der erste Funke zur Musik wurde auf der SS France geboren, die 1974 ein letztes Mal den Atlantik überquerte. Elton John nahm diese Reise nicht als Star auf sich, sondern als Mensch, der nach einem begeisternden, aber erschöpfenden Jahr eine Pause brauchte. Die Tage an Deck gehörten keinem Tourplan und keinem Studio, sondern dem Meer, dem Wind und den langen Gesprächen mit Davey Johnstone, dessen Akustikgitarre ständig mitschwang, als würde sie darauf warten, dass jemand sie berührt. Elton John setzte sich oft ans Electric Piano, und ohne Absicht entstanden die ersten Melodieumrisse. Es gab keine Mikrofone, keine Kontrollräume, nur die natürliche Resonanz eines Schiffes, das langsam über die Wellen glitt. Und in dieser Ruhe fand die Musik ihre Form.

Als die Band wenig später im “Caribou Ranch Studio” in Colorado zusammenkam, lag eine besondere Spannung im Raum. Bassist Dee Murray, Schlagzeuger Nigel Olsson und Gitarrist Davey Johnstone hatten sich über die Jahre zu einer Einheit entwickelt, die Elton Johns Ideen intuitiv verstand. Ray Cooper brachte mit Shaker, Congas, Glocken und Vibra­tönen jene Farben ein, die seine Handschrift auszeichneten – nie im Vordergrund, aber immer entscheidend für die Atmosphäre. Hier entstand ein Klang, der sowohl präzise als auch spontan wirkte, und dennoch von Energie durchzogen.

Schon der Einstieg, ´Captain Fantastic And The Brown Dirt Cowboy´, fühlt sich wie ein erzählter Lebenslauf an – nicht trocken, sondern vibrierend, als würde Elton John seine Vergangenheit mit jeder Klavierfigur neu beleuchten. Man hört die Frustrationen ihrer Anfangsjahre, die düsteren Londoner Pubs, die Ungewissheit, ob aus all den Liedern etwas werden könnte. Bernie Taupins Text wirkt wie ein offenes Geständnis, und Elton John antwortet darauf mit einem vokalen Schwung, der zugleich müde, verletzlich und entschlossen klingt.

´Tower Of Babel´ taucht in eine Welt ein, in der Erfolg Schatten wirft. Die Band spielt mit kantiger Präzision, das Klavier prallt gegen die Gitarren wie Gedanken, die sich überschlagen. Elton John klingt angespannt, beinahe trotzig – eine Stimme, die sich noch nicht sicher ist, ob der Preis für Berühmtheit nicht zu hoch ist.

Mit ´Bitter Fingers´ kehrt plötzlich Leichtigkeit ein, allerdings von jener Sorte, die aus Ironie geboren wird. Die Harmonien tänzeln, während die Geschichte zwischen Erschöpfung und Spott pendelt. Der Song wirkt wie ein Gruß an alle Musiker, die sich im Alltag der Musikindustrie verlieren, und doch nimmt Elton John die Melodie mit einem Lächeln auf, das den Schmerz nicht negiert, aber aushält.

´Tell Me When The Whistle Blows´ öffnet den Raum für Gene Pages orchestrale Eleganz. Die Streicher schmiegen sich an den Rhythmus, während Elton John sein Electric Piano mit einer fast filmischen Weichheit spielt. Der Song klingt wie eine Erinnerung an Sommernächte, die nie wiederkehren, und vielleicht ist es genau dieses Schimmern, das ihn so bewegend macht.

´Someone Saved My Life Tonight´ ist ein Moment von schonungsloser Offenheit, getragen von einem Klavier, das klingt, als würde es direkt aus Elton Johns Brustkorb gespielt. Die Band folgt ihm mit jener behutsamen Sensibilität, die diese Formation so einzigartig machte. Die Harmonien steigen wie Licht durch eine geöffnete Tür, und wenn Elton John die entscheidenden Worte singt, wirkt es, als würde er zum ersten Mal frei durchatmen.

Die zweite LP-Seite beginnt mit ´(Gotta Get A) Meal Ticket´, einem Song, der die rohe Energie ihrer frühen Bühnenzeit einfängt. Das Zusammenspiel von Dee Murray und Nigel Olsson treibt Elton John nach vorne, während Davey Johnstone Gitarrenlinien spielt, die wie glühende Skizzen eines früheren Lebens wirken. ´Better Off Dead´ führt diese Intensität weiter, aber mit einem satten Schuss Drama. Elton John singt mit einer Leidenschaft, die fast flackert, während Ray Coopers Triangle wie ein feiner Lichtpunkt durch die Dunkelheit sticht.

´Writing´ gehört zu jenen Liedern, die in ihrer Schlichtheit eine ungeheure Wärme ausstrahlen. Man spürt drei Musiker, die um Elton John herum atmen, lachen, zuhören – und den Song behutsam dorthin tragen, wo er hingehört. ´We All Fall In Love Sometimes´ führt diesen Moment noch weiter. Die Stimmen verschmelzen, das Klavier wirkt wie ein stiller Trost, und Davey Johnstones Gitarrenlinien legen sich wie weiche Schatten darüber. Es ist ein Lied über die Zerbrechlichkeit menschlicher Gefühle – und darüber, wie Schönheit gerade dort entsteht.

´Curtains´ schließt das Album mit einer jener sanften Erhabenheiten, die man nicht erzwingen kann. Elton John singt, als würde er am Ende eines langen Tages zurückblicken, und Bernie Taupins Worte leuchten in einem warmen Nachhall. Die Mellotron-Farben, die akustischen Gitarren, die zurückhaltenden Percussion-Impulse – alles verschmilzt zu einem letzten Moment, der nicht traurig ist, sondern voll Dankbarkeit.

Fünf Jahrzehnte später erscheint dieses Werk nun als “50th Anniversary Edition”, und es fühlt sich an, als würde man ein vertrautes Buch noch einmal aufschlagen – eines, dessen Seiten nun leicht vergilbt sind, aber mehr erzählen als je zuvor. Das 2025er Vinyl präsentiert sich auf zwei tri-colour Scheiben, deren ineinanderfließende Farben wie eine Verbeugung vor der Vielfalt der Musik wirken.

Das Set vereint das original remasterte Album, eine Reihe unveröffentlichter Session-Demos, die einen unmittelbaren Einblick in den Entstehungsprozess geben, und die kraftvollen Live-Momente der 2005er “Captain-Fantastic-Tour”, bei denen der “Voice Of Atlanta Choir” Elton Johns Gesang ein geradezu himmelfahrtsgleiches Volumen verlieh.

Das 28-seitige Booklet mit neu zusammengestellten Erinnerungsstücken und Elton Johns Tagebucheinträgen aus dem Jahr 1974 schließt die Lücke zwischen damals und heute. Man fühlt sich, als würde man ihm über die Schulter schauen – nicht dem Weltstar, sondern dem jungen Mann, der zwischen Zweifel und Hoffnung seinen Weg suchte.

So steht diese Edition nicht einfach als Jubiläumsausgabe im Regal, sondern als Zeitkapsel eines Weges, den zwei Freunde einst eingeschlagen haben, ohne zu wissen, wohin er führen würde. Fünfzig Jahre später lässt er sich noch immer hören, fühlen und erleben – so menschlich wie am ersten Tag – mit all seinen Triumphen, Prüfungen und der unvergänglichen Magie eines der größten Pop- und Rockalben aller Zeiten.

(Klassiker)

https://www.facebook.com/EltonJohn

Elton John – Gesang, akustisches Klavier, Fender Rhodes, Clavinet, ARP-Streicherensemble, Harmoniegesang, Cembalo, Mellotron
David Hentschel – ARP-Synthesizer
Davey Johnstone – Akustikgitarre, E-Gitarre, Mandoline, Hintergrundgesang, Leslie-Gitarre
Dee Murray – Bassgitarre, Hintergrundgesang
Nigel Olsson – Schlagzeug, Hintergrundgesang
Ray Cooper – Shaker, Congas, Gong, Jawbone, Tamburin, Glocken, Becken, Triangel, Bongos
Gene Page – Orchesterarrangements

 

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