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KEITH JARRETT – The Köln Concert

1975/2025 (ECM Records) - Stil: Jazz

Bevor ´The Köln Concert´ zu einem Mythos wurde, war Keith Jarrett bereits eine außergewöhnliche Erscheinung innerhalb der zeitgenössischen Musik. Früh als Wunderkind erkannt, klassisch ausgebildet und zugleich von Jazz, Folk und afroamerikanischer Musik tief geprägt, bewegte er sich von Beginn an zwischen den Welten, ohne sich je vollständig einer davon zu unterwerfen. Seine Karriere führte ihn über Stationen bei Charles Lloyd und Miles Davis zu einer zunehmend eigenständigen Sprache, in der Improvisation nicht als Variation über Vorhandenes verstanden wurde, sondern als Akt unmittelbarer Komposition.

Schon in seinen frühen Soloaufnahmen zeigte sich Keith Jarretts radikales Vertrauen in den Moment. Er betrat die Bühne ohne Skizzen, ohne Themen, ohne Absprachen, getragen allein von der Vorstellung, dass Musik im Augenblick entstehen müsse, um wahrhaftig zu sein. Dieses Prinzip forderte ein Höchstmaß an Konzentration, körperlicher Präsenz und emotionaler Offenheit. Jeder Soloabend war ein Wagnis, jeder Ton ein Bekenntnis zur Unwiederholbarkeit.

Als Keith Jarrett am späten Abend des 24. Januar 1975 nach einer Opernaufführung die Bühne der Kölner Oper betrat, traf all dies auf eine Situation, die kaum planbar war. Der Musiker war erschöpft, körperlich angeschlagen und innerlich zerrissen zwischen Zweifel und Pflichtgefühl. Das Publikum wartete, der Raum war mit eineinhalbtausend Zuschauern gefüllt, die Erwartung spürbar. Was folgte, war kein triumphaler Gestus, sondern ein langsames Hineintasten in den Klang, ein vorsichtiges Öffnen des Raums.

Das Konzert entfaltet sich nicht in klar abgesetzten Sätzen, sondern als organischer Fluss, in dem sich Ideen gegenseitig hervorbringen. Aus einfachen Figuren entwickeln sich weit gespannte Bögen, aus rhythmischen Keimen wachsen pulsierende Strukturen. Keith Jarrett arbeitet mit Wiederholung nicht als mechanischem Prinzip, sondern als Mittel der Verdichtung. Motive werden umkreist, variiert, verschoben, bis sie ihre eigene Schwerkraft entfalten. In den ruhigeren Passagen entsteht eine beinahe kontemplative Atmosphäre, getragen von weit ausklingenden Akkorden und einer melodischen Klarheit, die an geistliche Musik erinnert. Andere Abschnitte gewinnen an Dringlichkeit, gespeist aus bluesnahen Wendungen, aus tänzerischen Impulsen und einem tief verankerten Sinn für Groove.

Was dieses Konzert besonders macht, ist die Balance zwischen Kontrolle und Loslassen. Trotz aller Freiheit bleibt die Form stets präsent. Keith Jarrett verliert sich nicht im Gestischen, sondern hält den Spannungsbogen über die gesamte Dauer aufrecht. Die Musik wirkt wie ein einziger, langer Atemzug, in dem sich Intimität und Ekstase, Zartheit und körperliche Kraft immer wieder ablösen. Das Publikum wird nicht adressiert, sondern mitgenommen, hineingezogen in einen Prozess, der sich nur beim Zuhören vollständig erschließt.

Erst im Rückblick trat die Frage nach dem Instrument stärker in den Vordergrund. Tatsächlich stand nicht der ursprünglich gewünschte Konzertflügel auf der Bühne, sondern ein kleineres Modell. Doch die Musik selbst lässt keinen Zweifel daran, dass das Instrument professionell vorbereitet war. Der Klang ist ausgeglichen, die Dynamik reich nuanciert, die Artikulation klar. Die oft erzählte Geschichte vom unspielbaren Flügel verkennt, dass gerade diese klanglichen Eigenschaften entscheidend zum Gelingen des Konzerts beitrugen. Nicht das Überwinden eines Defizits steht hier im Zentrum, sondern die kreative Anpassung an gegebene Bedingungen.

Produzent Manfred Eicher erkannte früh die besondere Qualität dieses Abends. Unter dem Dach von ECM, einem Label, das sich der klanglichen Wahrhaftigkeit und der Stille zwischen den Tönen verschrieben hatte, fand die Aufnahme ihren idealen Rahmen. Die Veröffentlichung von ´The Köln Concert´ wurde weder kalkuliert noch strategisch geplant. Umso überraschender war die Wirkung, die von dieser Musik ausging. Der improvisierte Vortrag bestand aus zwei Abschnitten (´Part I´ und ´Part II a+b´), wohingegen die Zugabe (´Part IIc´) eine Eigenkomposition von Keith Jarrett war. Diese Vorstellung, dieses Album erreichte ein Publikum weit jenseits der Jazzszene und wurde zu einem stillen Begleiter einer ganzen Generation, präsent in privaten Räumen ebenso wie in öffentlichen Orten.

Heute erscheint ´The Köln Concert´ weniger als singulärer Ausreißer denn als Schlüsselmoment innerhalb von Keith Jarretts künstlerischer Entwicklung. Es markiert den Beginn einer langen Reihe von Soloaufnahmen, in denen er das improvisierte Klavierspiel bis in die Neunzigerjahre zu einer eigenständigen Kunstform erhob. Zugleich bewahrt dieses Konzert eine besondere Aura, weil hier alles auf eine fragile, unwiederholbare Weise zusammenkam. Ein Musiker an einem Wendepunkt, ein Raum voller Erwartung, ein Moment, der sich nicht wiederholen ließ und genau darin seine Kraft fand.

Vielleicht liegt die bleibende Bedeutung dieses Albums genau hier. Nicht in der Legende vom falschen Klavier, sondern in der Erfahrung, dass Musik dann am tiefsten wirkt, wenn sie sich nicht absichert. ´The Köln Concert´ ist kein Denkmal, sondern ein lebendiger Beweis dafür, dass Größe manchmal leise beginnt und sich erst im Verlauf offenbart.

Fünfzig Jahre nach jener Januarnacht in Köln kehrt ´The Köln Concert´ in einer Jubiläumsausgabe zurück. Die “50th Anniversary-Edition” erscheint als Doppel-LP in einer hochwertigen, matten Tip-On-Gatefold-Hülle, ergänzt durch ein eingeklebtes achtseitiges Booklet, das einen neu verfassten Begleittext in deutscher und englischer Sprache enthält. Originalaufnahmen und bislang unveröffentlichte Fotografien öffnen zusätzliche Perspektiven auf den Abend und den Künstler, ohne die Musik zu überlagern. Ein beigefügter Kunstdruck mit einem Porträt von Keith Jarrett und einer gedruckten Signatur setzt einen leisen, persönlichen Akzent.

Diese Jubiläumsausgabe macht deutlich, dass ´The Köln Concert´ kein abgeschlossenes Kapitel ist, obwohl es allein aufgrund seiner improvisatorischen Darbietung der Unwiederbringlichkeit ausgesetzt es, sondern ein Werk mit fortdauernder Resonanz. Sie lädt dazu ein, die Musik neu zu hören, nicht als Monument, sondern als lebendigen Moment, der auch nach fünf Jahrzehnten nichts von seiner Offenheit, seiner Verletzlichkeit und seiner inneren Spannung verloren hat. Gerade in dieser zurückhaltenden, respektvollen Präsentation zeigt sich, warum dieses Album bis heute Menschen berührt, nicht durch äußeren Glanz, sondern durch die stille Intensität eines Abends, an dem Musik einfach geschah.

Jahrhundertwerk.

https://www.facebook.com/keithjarrettsolo

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