
SOPHIE TASSIGNON – A Slender Thread
2025 (Nemu Records) - Stil: Vocal Experimental
Dieses Album beginnt nicht, es öffnet sich. Ein Atemzug, ein Hall, ein erster Ton, der nicht einfach erklingt, sondern Raum baut. ´A Slender Thread´ ist weniger eine Sammlung von Stücken als ein zusammenhängendes Gewebe, ein schmaler Faden, der sich durch Zeiten und Sprachen zieht und dabei nie den Knoten sucht, sondern die Spannung. Sophie Tassignon führt hier nicht in ein Stilfeld ein, sie führt in ihr Bewusstsein. Ihre Stimme ist Material, Körper, Architektur zugleich. Sie singt nicht nur, sie modelliert, schichtet, ritzt, glättet, verschattet. Man hört, wie Klang entsteht, wie er sich an die Wände legt, wie er wieder abfällt. “Nemu Records” veröffentlichen hier ein Werk, das nicht gefallen will, sondern wirken.
Schon der Auftakt über ´Erbarme Dich´ setzt ein Zeichen, weil Johann Sebastian Bach nicht als Denkmal behandelt wird, sondern als Startschuss. Die Arie schwebt nicht in ehrfürchtiger Vitrine, sie wird von Sophie Tassignon in einen neuen Raum gestellt, der größer ist als Kirche und kleiner als Kosmos, eine Art inneres Gewölbe. Ihre vielfach geschichteten Stimmen ziehen Kreise um das Flehen, bis das Flehen nicht mehr Geste ist, sondern Präsenz. Und dann, fast unmerklich, kippt es weiter. ´A Slender Thread´ zieht die Linie nach draußen, ins Elektrische, ins Schimmern, ins Flirren. Hier entstehen elektroakustische Räume, die verändern, als würde sich der Boden unter einem bewegen, geräuschlos, aber eindeutig.
´Molitva´, basierend auf Bulat Okudzhava, bringt das Russische nicht als Farbe, sondern als Schwerkraft. Sophie Tassignon formt aus dem Gebet eine Passage, die zugleich warm und eisig wirkt. Da ist etwas Chansonhaftes im Fluss, und im nächsten Moment bricht sie die Linie, lässt Silben über Kanten laufen, zieht die Stimme in Höhen, die wie Licht schneiden, oder in Tiefen, die wie Schatten hängen. Das ist echte Vokalkunst. Und es wirkt, weil jede Verwandlung einen Sinn hat, weil die Musik nicht am Effekt aufblüht.
Mit ´Chornij Voran´ landet das Album auf Erde, aber auf zerwühlter Erde, die nach Geschichte riecht. Das traditionelle Lied trägt bereits Tragik in seinem Ansatz, und Sophie Tassignon lässt diese Tragik stehen, ohne sie zu erklären. Hier tritt Kevin Patton spürbar ins Bild. Seine Gitarren sind eine dunkle Kontur. Sie legen Ruß an die Ränder, schärfen die Silhouette, geben dem Stück einen Schubs nach vorn, der sich nicht in Tempo misst, sondern in Spannung.
´Marhaba´ öffnet dann eine andere Tür. Der Text von Ousha bint Khalifa Al Suwaidi wird nicht in Musik gefasst, er wird bewohnt. Arabisch prägt die Artikulation, die Bögen, den Atem, und Sophie Tassignon baut darum elektronische Texturen, die modern sind, ohne kalt zu werden. Es ist Musik, die zugleich glüht und flimmert, die auf der Zunge liegt und im Raum nachklingt. ´Yellow Leaves´, mit einem Text von Hicham Nasr, zieht die Stimmung weiter in eine kontemplative Zone. Hier arbeitet sie mit feinen Verschiebungen, mit schwebenden Schichten, mit einem Puls, der eher spürbar als hörbar ist. Es ist ein Stück, das nicht besänftigt, sondern bündelt.
´The Soldier In You´ trägt zum Schluss eine nervöse Energie unter die Oberfläche. Kevin Patton liefert mit Drum-and-Bass-Programmierung und Gitarren eine körnige, dunkle Antriebskraft, während Sophie Tassignon textlich und vokal eine Beziehung im Zustand der Erkenntnis zeichnet, in dem Nähe weh tut und Erinnerung nicht tröstet. Das Stück ist nicht laut, aber geladen. Es flackert, es drückt, es zieht. Und genau so endet diese Platte, mit einem Nachhall, der bleibt, weil er nicht auf Auflösung zielt.
´A Slender Thread´ ist ein Album, das Grenzen überschreitet, um zu zeigen, wie viele Wahrheiten gleichzeitig in einem einzigen Atemzug Platz haben. Bach, russisches Gebet, traditioneller Gesang, arabische Poesie, Elektronik und Stimme werden hier nicht gemischt, sondern verwoben, bis aus Vielfalt eine eigene Logik entsteht. Das Ergebnis klingt wie ein schmaler Faden, an dem ein ganzer Kosmos hängt. Wer sich hineinbegibt, hört nicht nur Musik, sondern eine Welt, die in Schichten spricht, in Sprachen atmet und in Hallräumen denkt.
(8,5 Punkte)



