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SIGUR RÓS – Takk…

2005/2025 (Krunk) – Stil: Post Rock

Stellt euch vor, ihr steht auf einem hohen, schneebedeckten Berg in Island. Die ersten Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken, wärmen das gefrorene Land und ein Gefühl von unendlicher Möglichkeit steigt in euch auf. Genau so beginnt ´Takk…´, das vierte Studioalbum von SIGUR RÓS, erstmals im Jahre 2005 veröffentlicht, nun in einer frisch remasterten Version von Ted Jenson bei Sterling Sound. Jeder Ton ist klarer, jeder Bass wärmer, jede Streicherpassage atmet tiefer. Die Magie des Originals bleibt, neue Details treten hervor wie das Funkeln von Eis in der Morgensonne.

SIGUR RÓS, gegründet 1994, haben in der Besetzung Jón Þór “Jónsi” Birgisson (Gesang, Gitarre), Kjartan Sveinsson (Keyboards), Georg Hólm (Bass) und Orri Páll Dýrason (Drums) mit ´Takk…´ ein Werk geschaffen, das triumphal und verspielt zugleich ist. Die Band, deren Name „Victory Rose“ bedeutet, öffnet Türen zu Gefühlen, die man zuvor nicht benennen konnte. Ihr Sound ist ätherisch, komplex, oft mit wechselnden Taktarten und orchestralen Arrangements, Jónsis Falsettstimme ist ein Instrument, das Geschichten erzählt, die Worte niemals fassen könnten. Hopelandic, eine Form von gesprochener Musik, die über Sprache hinaus Emotionen transportiert, ist in mehreren Kompositionen präsent.

Das Album beginnt mit dem Titelstück ´Takk…´, einem drone-artigen Intro, das wie der Atem der Landschaft Islands klingt. Die Kälte des Berges, der leichte Wind auf der Haut und die ruhige Weite spiegeln sich in den sanften Tönen wider. Dann entfaltet sich ´Glósóli´. Auf dem schneebedeckten Berg spürt man jeden Bass, jedes Glockenspiel, während Jónsis Stimme wie ein Kind in der Kälte singt. Die Intensität wächst langsam, bis sie in einer monumentalen Wand aus Gitarren, Keys und Percussion kulminiert, bevor sie wieder leise wird, als hätten die Klänge den Gipfel überschritten und lösen sich in Luft auf.

Mit ´Hoppípolla´ erreicht das Album seinen strahlenden Höhepunkt. Streicher, Brass-Sektion und triumphale Melodien lassen den Zuhörer auf dem Berg tanzen, ohne dass ein Fuß den Boden berührt. Das anschließende ´Með Blóðnasir´ spielt die Melodie erneut, diesmal mit minimaleren Instrumentierungen und wirkt wie ein sanfter Nachklang eines großen Moments. Man kann sich vorstellen, wie die Sonnenstrahlen über den Schnee tanzen, während die Musik die Landschaft aufweckt.

´Sé Lest´ zeigt Jónsis Stimme als reines Instrument, engelsgleich und klar, über Trommeln, Streichern und Chimes schwebend. Wie auf einem sonnigen Plateau über dem Bergtal fliegt der Klang, unschuldig, kindlich und emotional zugleich. Die Musik ebbt und fließt, ein lebendiges Spiel aus Licht und Schatten, wie der Wind, der die Schneewehen bewegt. Jónsi setzt seine Vocals experimentell ein und die Streicher von AMIINA improvisieren live dazu.

´Sæglópur´ beginnt wie leises Wasserplätschern auf dem Gletschersee, entwickelt sich dann zu einem dramatischen Crescendo, das Risiko, Unsicherheit und Erlösung verkörpert. Während der Aufnahmen erzeugten sie bewusst Spannungen, um das Gefühl von Loslassen und Neuanfang einzufangen. Denn wenn man auf dem Berg steht, kann man die Kraft des Elements spüren, die sich in den Klängen widerspiegelt.

´Mílanó´, das längste Stück des Albums, komponiert zusammen mit dem Streichquartett AMIINA, entfaltet sich wie ein weitläufiges musikalisches Panorama. Ein Musikspielzeug-artiges Motiv wiederholt sich, während Streicher, Keys und Bass langsam aufeinander aufbauen. Nach sieben Minuten erreicht das Stück seinen Höhepunkt, bevor es sanft in Stille zurückfällt. Geduld und Erwartung spiegeln sich in jedem Ton, wie der Blick, der über die weite, stille Berglandschaft schweift. Jónsi setzt dabei seine Stimme als reines melodisches Instrument ein, samt den ungewöhnlichen Harmonien in den Hopelandic-Passagen.

´Gong´, ´Andvari´ und ´Svo Hljótt´ demonstrieren die komplexen Rhythmen der Band, wechselnde Taktarten, polyphone Strukturen und falsettbetonte Vocals, die gleichzeitig Melodie und Emotion transportieren. ´Andvari´ zeigt die raffinierte Progressivität der Band. Die 27-Takte-Struktur des Songs fordert die Musiker heraus, während sie gleichzeitig in einer 18-Takte-3/8-Begleitung spielen. ´Svo Hljótt´ entwickelt sich dagegen von minimalem Piano und Synths zu einem fulminanten Crescendo aus Streichern, Keys und Rockdrums, wie ein Sturm, der über das Hochplateau fegt, während der Himmel sich von Grau zu Gold färbt.

Die Remaster-Edition enthält bisher unveröffentlichte Tracks wie ´Melrakki´ und ´Elfur´ sowie B-Seiten der ´Takk…´-Ära. Georg Hólm erklärt, dass diese Stücke immer da waren, nur nie vollständig veröffentlicht wurden. Sogar ´Hoppípolla´ entstand aus Fragmenten, die zusammengesetzt wurden, bis ein ganzer Song daraus wurde. Auf dem Berg kann man sich vorstellen, wie diese Ideen Schneeflocken gleich im Wind schweben, bevor sie zu festen Formen zusammenfinden.

Wenn SIGUR RÓS bisher für introspektive, herbstlich-graue Tage standen, so ist ´Takk…´ ein goldener Herbsttag voller fallender Blätter, warmer Sonnenstrahlen und leiser Wehmut. Eine Wanderung über den Berg, an einem gemütlichen Ort inne haltend, den Kopf leicht nachdenklich geneigt, mit einem geheimnisvollen Lächeln, das charmant und verstörend zugleich wirkt.

Die Musik ist ein emotionaler Impuls zum Staunen, zur Freude, Trauer und Hoffnung. Jónsis Stimme ist der Leitfaden dieser Reise, hoch, klar, engelsgleich. Sie erhebt sich wie Vogelgesang über die isländische Landschaft, berührt das Herz und bleibt dort, lange nachdem die letzten Töne verklungen sind.

Die gesamte Bandgeschichte wird spürbar: Die Ursprünge in Reykjavík 1994, die ersten Veröffentlichungen, das Vorbild der Sugarcubes, die Experimente mit Falsett, Streichern, Hopelandic und den komplexen Taktarten. ´Takk…´ ist der Moment, an dem SIGUR RÓS endlich freudig wirken, wenn auch auf ihre eigene tief nordatlantische Art.

´Takk…´ ist mehr als ein Album, es ist ein Erlebnis, eine Reise, ein Universum aus Klang und Licht. Von der ersten Note bis zur letzten Schwingung vermittelt es eine ganze Bandbreite menschlicher Emotionen. Die 20th Anniversary Edition lässt dies alles intensiver erscheinen als je zuvor. Ob der triumphale Glanz von ´Hoppípolla´, die schwebende Schönheit von ´Sé Lest´ oder das dramatische Crescendo von ´Mílanó´, jedes Stück erzählt eine Geschichte, die über Worte hinausgeht.

Es ist ein Album, das man fühlt, nicht nur hört. Es ist ein Sonnenaufgang, ein Sprung in die Luft, ein Moment der Stille, ein Lachen und eine Träne zugleich. Es ist SIGUR RÓS in ihrer reinsten, schönsten Form, ein Werk, das das Herz berührt und die Musikgeschichte geprägt hat.

(Klassiker)

https://www.facebook.com/sigurros

 

 

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