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BLUR – Modern Life Is Rubbish

1993/2023 (Food/Parlophone) - Stil: Britpop

Ende der Achtziger in London. Vier junge Männer – Damon Albarn, Graham Coxon, Alex James und Dave Rowntree – finden zueinander, erst als SEYMOUR, dann, nach Labeldruck, unter dem knapperen Namen BLUR. Sie kommen aus Colchester und Camden, aus Studentenkneipen und Vorstadtstraßen, aus einem England, das Thatcher gerade kalt durchregiert hatte. 1991 veröffentlichen sie mit ´Leisure´ ein Debüt, das noch im letzten Atemzug der Madchester-Welle schwimmt, Shoegaze-Gitarren und Baggy-Beats im Gepäck, und doch schon ein wenig fehl am Platz wirkt. Der schnelle Durchbruch bleibt aus, und nach einer zermürbenden US-Tournee samt 44 Terminen, auf der sie lieber gegeneinander als gegen NIRVANA ankämpfen, stehen BLUR 1992 mit 60.000 Pfund Schulden und einem verletzten Stolz da. Während SUEDE in London gefeiert werden, droht ihnen das Label-Aus.

Doch Damon Albarn ist keiner, der sich ergeben würde. Statt amerikanischen Gitarren nachzueifern, besinnt er sich trotzig auf England. Auf die KINKS, die SMALL FACES, auf Pubs, Vororte, Busfahrten, Sonntagsbraten und den Benzingestank der Metropole. Aus Blur vs. America wird, dank Stephen Street als Produzenten, das stolze ´Modern Life Is Rubbish´. Ein Titel wie ein Graffiti an Londons Hauswänden, eine Kampfansage und Liebeserklärung zugleich.

Der Opener ´For Tomorrow´ ist wie ein grauer Wintertag auf Primrose Hill. Damon Albarn singt von jungen Menschen, die warten müssen, bis morgen vielleicht alles besser wird. Streicher heben die Melodie, Graham Coxons Gitarre schimmert, und die “la la las” sind so schlicht wie entwaffnend. Hier beginnt Britpop, lange bevor das Wort durch die Gazetten geistert.

Dann schlägt ´Advert´ den Takt an. Ein bissiger Punk-Aufschrei gegen Reklameterror und Konsumrausch, bei allgemeiner Unzufriedenheit mit dem Leben. Dave Rowntrees Drums feuern wie Maschinengewehrsalven, Graham Coxons Riffs wirken knurrend und gierig. Stattdessen karikiert ´Colin Zeal´ den aufrechten Yuppie mit Scheitel und sicherem Einkommen, in bester Ray Davies-Tradition, der alles zu wissen glaubt und für alles einen Plan hat. ´Pressure On Julian´ bäumt sich nervös auf, während ´Star Shaped´ die Flucht in Träumereien sucht. Da ist er wieder, der Pop als Tagtraum.

Danach wird ´Blue Jeans´ zu einer zärtlichen Pause. Damon Albarn am Piano, zurückgelehnt, fast schläfrig, aber süß wie ein Glas billiger Rotwein im Studentenwohnheim. Daneben steht ´Chemical World´, ein Stück, das das Label unbedingt wollte und das dank Graham Coxons flirrenden Gitarren und Alex James’ Bass-Groove trotzdem zu einem der Highlights heranwächst, irgendwo zwischen psychedelischer Verklärung und hymnischer Schärfe.

´Sunday Sunday´ packt das ganze Sonntagsritual Englands in zweieinhalb Minuten Music-Hall-Satire, samt Zeitungen, Braten, Spaziergängen und Blaskapellen. Überspitzt, karikierend, und doch so nah an der Wirklichkeit, dass man den Sonntagsduft fast riecht. So experimentierfreudig spielen BLUR auch anschließend auf. ´Oily Water´ wabert bedrohlich, Dave Rowntrees Drums treiben wie Herzschläge, während Graham Coxons Gitarre sirrt und tropft.

´Miss America´ ist Damon Albarns melancholischer Seitenhieb auf die große transatlantische Schwester. ´Villa Rosie´ über einen Gentlemans Club und ´Turn It Up´ sind schillernde kleine Popsongs, die beweisen, wie sehr BLUR das Alltägliche in große Hooklines verwandeln können. ´Coping´ schlägt wieder die schnelleren Gitarrentöne an, bevor ´Resigned´ das Album mit einem resignierenden, aber auch schimmernden Stück beschließt, samt erster Melodica, die Damon Albarn später bei den GORILLAZ zur Signatur machen sollte.

Das Album ist kein Hitfeuerwerk wie später ´Parklife´, sondern eine lange, verschlungene Fahrt durch das damalige England. Es atmet den Smog von London, die Müdigkeit einer Generation, die sich zwischen Grunge-Import und Tory-Gesellschaft verloren fühlt. Und es legt den Grundstein für das, was man bald Britpop nennen wird, in Form einer Rückbesinnung auf englische Melodien, auf Charaktere aus den Vorstädten, auf Humor und Biss, auf dieses stolze Gefühl, dass man keine Seattle-Kopie sein muss, um wichtig zu sein.

´Modern Life Is Rubbish´ erreichte 1993 nur Platz 15 in den Charts – kein Vergleich zu den kommenden Triumphen. Doch wer die Platte hört, weiß, dass hier die eigentliche Geburt stattfindet. Ein schräges, wütendes, verliebtes England-Credo, das Damon Albarn und BLUR wieder ins Spiel bringt. Ohne diesen Schritt, ohne diese Mischung aus Trotz und Romantik, gäbe es kein ´Parklife´, keinen Britpop-Hype und kein Schlachtgetöse mit OASIS.

Dieses Album ist ein Spiegel jener Zeit, ein trotziges Lächeln gegen das Rubbish der Moderne. Und wer es heute hört, erkennt, dass Modern Life immer noch Rubbish ist, aber selten war es so schön, diesem Müll eine Hymne zu widmen.

Für Fans von:

THE KINKS (für die bissige Alltagspoesie), THE JAM (für die modsche Schärfe), XTC (für die schrägen Haken), SUEDE (für die frühe Britpop-Arroganz), frühen PULP (für den lakonischen London-Charme) – und überhaupt für alle, die sich lieber im Doppeldecker durch Camden rumpeln lassen, als in Seattle auf nassem Flanell zu versumpfen.

Warum hören?

Weil hier Britpop geboren wird – mit Biss, Witz und Melancholie, mit Straßenstaub von Camden und dem Benzingeruch der M25. BLUR zeigen, dass modernes Leben zwar Rubbish sein mag, aber Pop daraus funkelndes Gold spinnen kann.

2023 bekommt ´Modern Life Is Rubbish´ den verdienten Festanzug. Zum 30. Jubiläum erscheint das Album als Doppel-LP, limitiert auf 5.000 Exemplare, transparentes Orange, 180g schwer, im Gatefold mit bedruckten Innenhüllen und allen Lyrics. Auf dem Hype-Sticker prangt stolz „30th anniversary orange vinyl“, die Runouts sind fein säuberlich eingraviert, die Songs diesmal sogar durchgehend durchnummeriert. Herausgebracht wurde die Edition pünktlich zum britischen “National Album Day” – und sie klingt wie eine Verjüngungskur. Sammler jubeln über einen satten, ausgewogenen Sound, mehr Dynamik und Druck als beim 2012er Reissue, während andere über gewöhnliche Vinyl-Eigenheiten fluchen. Doch wenn die Nadel richtig sauber durchläuft, ist das Ergebnis großartig, detailreich, ohne Oberflächenrauschen. Und dazu dieses leuchtende Orange – wie ein Sonnenaufgang über Primrose Hill, eingefroren in PVC.

https://www.facebook.com/blur

 

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