
Es gibt Musiker, die spielen Instrumente. Und es gibt Ned Rothenberg. Er entlockt ihnen ganze Welten.
Seit über vier Jahrzehnten streift dieser New Yorker Freigeist über die Kontinente, als Nomade zwischen den Hörgewohnheiten, stets mit einem wachen Ohr für alles, was Klang ist – und sein könnte. Auf seinem neuen Soloalbum ´Looms & Legends´ webt Rothenberg aus nur drei Instrumenten – Altsaxophon, Klarinette und der japanischen Bambusflöte Shakuhachi – ein dichtes, schillerndes Gewebe, das sich jeder Schublade widersetzt. Es ist seine erste Soloaufnahme seit ´World Of Odd Harmonics´ aus dem Jahre 2012, und sie klingt, als hätte er in der Zwischenzeit einen ganzen Ozean an Atem gesammelt, um ihn nun in einem großen Bogen freizusetzen.
´Looms & Legends´ ist kein freundlicher Jazzbrunch-Soundtrack. Es ist eine Einladung, tiefer zu gehen und zu hören.
Schon der Opener ´Dance Above´ verblüfft mit metallisch schabenden Klappengeräuschen sowie zirkulierendem Atem, wie eine quietschende Maschine, die sich plötzlich in einen hypnotischen Groove verwandelt. ´Denali´ wirkt dagegen mit seiner einsamen Saxophonlinie wie eine archaische Beschwörung. Und ´Resistance Anthem´ erhebt sich wie ein Trotzkopf, mit marschartigem Atem und einer hartnäckigen Entschlossenheit.
Ned Rothenberg spricht von „Loom“-Stücken, in denen er den Hörer durch dichte, fremdartige Klanglandschaften streifen lässt, und von „Legends“, die wie Miniaturgeschichten gebaut sind.
Ein Konzept, das sich von Stück zu Stück entfaltet. ´How You Slice It´ und ´Plun Jah´ lassen die kreisenden Atemschleifen pulsieren. ´Brief Tall Tale´ zündet in kaum einer Minute ein Feuerwerk aus Ton und Energie. ´Urgency´ dagegen ist ein tektonisches Beben, das unter der Oberfläche arbeitet und plötzlich aufbricht. ´Fra Gile´ schwebt wie feine Ranken in der Luft, ´BellKeyBell´ reduziert das Saxophon auf sein klapperndes Skelett.
Ganz am Ende schleicht sich ein Geist durch die Ritzen. Thelonious Monks ´’Round Midnight´ erklingt auf der Shakuhachi. Ein bekanntes Thema, doch hier tönt es wie Wind über nächtlichen Feldern, sehr still und entrückt.
´Looms & Legends´ ist kompromisslos und eigenwillig. Ned Rothenberg verweigert sich der kurzlebigen Aufmerksamkeit unserer Zeit und erschafft Klangräume, in denen man lauschen, entdecken und verweilen kann. Jede Phrase, jeder Atemzug, jede Schwingung erzählt, pulsiert und öffnet Türen.
Er lernte Shakuhachi bei den japanischen Meistern, forschte in afrikanischen und asiatischen Traditionen, spielte mit Visionären wie Zorn, Parker, Ribot und Courvoisier – und dennoch klingt alles wie aus einem unentdeckten Land, dessen Ureinwohner Zirkularatmung zur Muttersprache gemacht haben.
Das Album öffnet die Tür zu einer geheimnisvollen Klangwelt. Jede Phrase, jede Schwingung weckt Neugier. Es entzieht sich der Hast der Welt, bietet ein Refugium für die Sinne und lädt ein zum Lauschen, Staunen und Verweilen.
(8,5 Punkte)