
Wenn eine Band aus den Scherben einer anderen entsteht, trägt sie zwangsläufig noch deren Staub an den Stiefeln. So war es auch 1994, als Jeff Tweedy und die verbliebene Mannschaft von UNCLE TUPELO – John Stirratt, Ken Coomer, Max Johnston – plötzlich ohne Jay Farrar dastanden. Statt das Kapitel zu schließen, schlugen sie ein neues auf: WILCO. Der Name, aus der Fliegersprache für „will comply“, war damals mehr augenzwinkernd als programmatisch gemeint, denn Gehorsam war nie ihre Sache. Und doch war der Start mit ´A.M.´ mehr ein erstes Lagerfeuer im weiten Land, bevor der große Aufbruch kam.
Die Sessions fanden im Sommer 1994 im „Easley Studio“ in Memphis statt. Jeff Tweedy wollte mehr Demokratie wagen als bei UNCLE TUPELO, aber letztlich ist ´A.M.´ vor allem sein Album. Nur einmal, bei ´It’s Just That Simple´, durfte Bassist John Stirratt die Leitung übernehmen, und es wurde zugleich der einzige WILCO-Song, dessen Text nicht aus Jeff Tweedys Feder stammt. Für die Gitarren brachte man Brian Henneman von den BOTTLE ROCKETS an Bord, der seine, an Neil Young erinnernden Leads im Sonnenstaub unter Strom setzte. Lloyd Maines ließ dazu die Pedal Steel wie wehmütige Fernzüge durchs Bild fahren, während Max Johnston mit Mandoline, Banjo und Fiddle die Ränder bestäubte.
Die Produktion ist klar, fast nüchtern, nicht staubig wie UNCLE TUPELO, aber auch noch weit entfernt von den schillernden Klangkonstrukten, für die WILCO später berühmt werden sollten. ´A.M.´ ist eine Platte, die die Fenster aufreißt, den Fahrtwind reinlässt und einfach ohne ein konkretes Ziel losfährt.
Das Album beginnt mit ´I Must Be High´, einem kraftvollen und direkten Einstieg. Klare Gitarrenriffs und ein treibender Beat setzen sofort den Ton, Jeff Tweedys Gesang steht dabei unaufgeregt im Vordergrund. ´Casino Queen´ zieht das Tempo an und bringt mit Honky-Tonk-Piano und verzerrten Gitarren eine deutlich energischere und rockigere Note ein, unterstützt von lebhaften Background-Vocals.
Mit dem emotionalen ´Box Full Of Letters´ rückt die Band das Songwriting stärker in den Fokus. Gitarren und Mandoline verweben sich zu einem zurückgenommenen Arrangement, in dem Tweedys Gesang viel Raum bekommt. ´Shouldn’t Be Ashamed´ wirkt rhythmischer und kompakter, getragen von Ken Coomers präzisem Schlagzeugspiel und einem markanten Basslauf von John Stirratt.
´Pick Up The Change´ öffnet das melodische Klangbild leicht, lässt akustische Gitarren und Mandoline mehr Platz, bevor ´I Thought I Held You´ mit Pedal Steel und Piano einen ruhigeren, balladesken Ton anschlägt. ´That’s Not Ihe Issue´ bringt danach wieder kantigere Gitarrenarbeit und ein dichteres Zusammenspiel der Rhythmusgruppe.
Auf ´It’s Just That Simple´ übernimmt Stirratt den Gesang und wird von akustischer Gitarre, Mandoline und dezentem Schlagzeug begleitet, ein zurückhaltender Moment. ´Should’ve Been In Love´ greift wieder Tweedys Stimme auf, setzt auf gedämpfte Gitarren und einen weichen Rhythmus, bevor der charmante Höhepunkt ´Passenger Side´ mit Fiddle und zurückgenommenem Schlagzeug eine lakonische Atmosphäre schafft.
´Dash 7´ reduziert die Instrumentierung stark, leise Pedal Steel, sparsame Gitarren, kaum Schlagzeug und viel Raum So wirkt der minimalistische Song fast schwebend. ´Blue Eyed Soul´ setzt danach wieder auf Energie mit markantem Gitarrenspiel und druckvollem Schlagzeug, ehe ´Too Far Apart´ das Album mit einer Mischung aus akustischen und elektrischen Gitarren emotional beschließt, getragen von einer dichten Bandperformance und Tweedys markanter Stimme.
´A.M.´ wurde damals von vielen als „Fehlstart“ belächelt. Doch mit etwas Abstand klingt ´A.M.´ nicht wie ein Fehltritt, sondern wie ein notwendiger erster Atemzug. Es ist der Klang einer Band, die gerade erst begreift, dass sie frei ist.
WILCO würden danach mutiger werden, versponnener, kunstvoller – ´Being There´, ´Yankee Hotel Foxtrot´, ´Sky Blue Sky´ –, aber hier auf ´A.M.´ hört man noch das helle Aufblitzen einer Band, die aus den Trümmern kam und plötzlich den Himmel sah.
Nur für manche ist es ein Meisterwerk, besonders für Verfechter von Debütalben – doch vor allem ist es ein Anfang. Und manchmal ist ein Anfang alles, was man braucht, um loszufliegen.
Die aktuelle Wiederveröffentlichung in Rhinos „High Fidelity“-Serie zum 30. Jubiläum gibt diesem Album nun auch klanglich das Gewicht, das es verdient. Die auf 5.000 Exemplare limitierte, nummerierte Auflage wurde von Kevin Gray bei „Cohearent Audio“ direkt von den originalen analogen Stereo-Masterbändern geschnitten und auf 180g-Vinyl bei „Optimal“ gepresst. Verpackt ist sie in einem hochwertigen, glänzenden Gatefold-Tip-On-Cover mit neuem vierseitigem Booklet und Linernotes von Bob Mehr.
Der klangliche Zugewinn ist deutlich. Die Instrumente sind klar voneinander getrennt, ohne an Wärme zu verlieren; der Mitteltonbereich wirkt offener und detailreicher, das Stereobild breiter und gleichzeitig präziser. Jeff Tweedys Stimme steht präsent im Raum, ohne die übrigen Instrumente zu überdecken. Selbst wer ´A.M.´ seit Jahrzehnten kennt, wird hier Nuancen entdecken, die bisher verborgen blieben. Rhinos „High Fidelity“- Neuauflage sollte sowohl Sammler als auch Neuhörer überzeugen.
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Jeff Tweedy – Gesang, Gitarre, Akustikgitarre, Bass
John Stirratt – Bass, Gesang, Klavier, Akustikgitarre, Orgel
Ken Coomer – Schlagzeug, Gesang
Max Johnston – Dobro, Geige, Gesang, Mandoline, Banjo
Brian Henneman – Gitarre, Gesang, kleine Stoned-Gitarre
Daniel Corrigan – Gesang
Lloyd Maines – Pedal-Steel-Gitarre
WILCO, Brian Henneman & Daniel Corrigan – Händeklatschen, Publikumslärm, Jubelschreie