
JETHRO TULL – Stand Up
1969/2022 (Analogue Productions) - Stil: Hard/Folk Rock
Im Sommer 1969 legten JETHRO TULL mit ´Stand Up´ einen ersten Schritt zum Richtungswechsel hin. Die britische Band, die mit ´This Was´ noch tief im Blues verwurzelt gewesen war, fand hier unter der Führung von Ian Anderson einen neuen Ansatz. Folkige, barocke und jazzige Elemente wurden in den rockigen Grundsound eingebettet, die Flöte rückte auf vielen Stücken endlich in den Mittelpunkt, und mit Martin Barre stand erstmals ein Gitarrist in der Besetzung, der der Band eine schärfere und zugleich flexiblere Rockkante verlieh.
Doch der Wechsel an den Saiten verlief nicht unbedingt reibungslose. Mick Abrahams, Blues-Purist der ersten Stunde, stieg aufgrund der berüchtigten musikalischen Differenzen aus. An seine Stelle trat nach kurzen Probephasen vorübergehend sogar Tony Iommi und schließlich Martin Barre, dessen Griffbrett-Kreationen fortan zu einem prägenden Element der Band werden sollten. Doch auf ´Stand Up´ übernahm Ian Anderson im Wesentlichen die komplette Songwriting-Verantwortung. Das einzige Stück außerhalb seiner Feder ist die kühne, jazzinspirierte Bearbeitung von Johann Sebastian Bachs ´Bourée´.
Die Aufnahmen fanden im April/Mai 1969 größtenteils in den “Morgan”-Studios statt. Das damals moderne 8-Spur-Equipment schenkte der Band neue Möglichkeiten, die Songs detailreicher aufzubauen. Viele Stücke wurden bewusst live eingespielt, mit spürbarer Spielfreude und atmosphärischer Direktheit, während akustische Nummern wie ´Look Into The Sun´ eher intim und einzeln entstanden. JETHRO TULL gaben sich nicht mehr mit einer reinen Bluesästhetik zufrieden, sondern wollten ihre Klangpalette erweitern.
Die Platte eröffnet mit ´A New Day Yesterday´, einem druckvollen Bluesrocker, dessen hypnotisches Hauptriff durch den Song zieht. Zwischen den Strophen öffnen sich immer wieder kurze Fenster für Flöten- und Gitarrensoli, die der rauen Energie Glanzlichter verleihen. Dabei klingen sie kraftvoll und kompromisslos, fast wie CREAM oder später BLACK SABBATH, ohne ihre feinsinnigen Farben einzubüßen.
´Jeffrey Goes To Leicester Square´ ist das erste Augenzwinkern des Albums. Das folklorisch angehauchte, rhythmisch verschachtelte Miniaturstück ist nach Ian Andersons Jugendfreund Jeffrey Hammond benannt. Ungerade Phrasen und leicht skurrile Harmonien verleihen dem Song eine verspielte Leichtigkeit.
Mit ´Bourée´ gelingt der Band einer ihrer frühesten Geniestreiche. JETHRO TULL zitieren Johann Sebastian Bach nicht ehrfürchtig, sondern mit Swing, Jazzfeeling und feinem Groove. Ian Andersons Flöte führt elegant, während Glenn Cornicks Bass hervortritt und sich zu einem virtuosen Kontrapunkt entfaltet. Dieses Stück ist bis heute eine Art inoffizielles Erkennungszeichen der Band.
´Back To The Family´ greift die Themen Entfremdung und Heimweh auf, beginnt fast zurückhaltend, steigert sich aber zu einem kraftvollen Finale. Ian Andersons Gesang changiert zwischen ironischer Distanz und echter Rastlosigkeit, während die Band das emotionale Aufbäumen im Arrangement spürbar mitträgt.
´Look Into The Sun´ schließt die erste Vinyl-Scheibe als zarte Akustikballade. Tremolo-Gitarre, sanfte Akkordwechsel und eine weit ausschwingende Melodie verleihen dem Song eine Wärme. Man spürt Ian Andersons wachsendes Gespür für Atmosphäre und den Mut, einen ganzen Song auf schlichte Schönheit zu bauen.
Die zweite Vinyl-Scheibe startet mit ´Nothing Is Easy´, einem Paradebeispiel für die Live-Power der Band. Das treibende Riff, das stete Anziehen der Intensität und das fulminante Coda wirken wie eine Verlockung, so dass der Song jahrelang ein Live-Favorit blieb.
´Fat Man´ überrascht mit einer exotisch anmutenden Klangpalette. Mandolinenfarben, unkonventionelle Rhythmen und eine Prise Selbstironie im Text machen daraus ein kurzes, würziges Zwischenspiel, das den Spannungsbogen auflockert.
Mit ´We Used To Know´ taucht das Album in melancholischere Gewässer. Der Song entfaltet sich langsam, beinahe erzählerisch, bis er in ein ausdrucksstarkes Finale mündet, in dem Martin Barres Gitarrensolo wie eine letzte, klärende Aussage wirkt. Übereinstimmungen zu ´Hotel California´ ergeben sich dabei nicht zufällig, denn THE EAGLES waren des Öfteren Vorgruppe von JETHRO TULL und schauten sich diese Melodiefolge für ihren späteren Welthit ab.
´Reasons For Waiting´ bringt als erster Tull-Song orchestrale Streicher ins Spiel, arrangiert von David Palmer. Die Kombination aus Flötenmelodie und Streicherteppich schafft eine schwebende, fast kammermusikalische Stimmung, die zu den eindringlichsten Momenten des Albums zählt.
Der Abschluss ´For A Thousand Mothers´ ist ein vielschichtiges Rockstück mit kantigem Rhythmus und theatralischem Finale. Der Song thematisiert den Zwiespalt zwischen dem Wunsch nach individueller Freiheit und der Bindung an die Familie. Aus Ian Andersons Sicht spiegelt er den Zweifel seiner Angehörigen wider, während die Eltern eher verwirrt als kritisch erscheinen. So fängt das Stück die ambivalente Phase des Erwachsenwerdens ein.
Parallel zum Album hatte die Band mit der Single ´Living In The Past´ einen unerwarteten Hit (ein nicht auf der Original-LP enthaltenes Stück), das in Großbritannien Top-Ten-Platzierungen belegte und für ´Stand Up´ den Weg des kommerziellen Erfolgs ebnete. Das Album selbst erreichte in Großbritannien die Spitzenposition und markierte den ersten internationalen Karriereschub, in den USA öffnete es die Türen für spätere Erfolge.
Was auf ´Stand Up´ besonders ausgewogen erscheint, ist die technische Versiertheit der Band, die niemals selbstverliebt aufspielt, und die raffinierten Arrangements, die gleichermaßen niemals die Lieder selbst erdrücken. Dabei steht natürlich Ian Andersons melodische Begabung und die Songidee selbst, im Gegensatz zu späteren, ausufernden Prog-Exkursionen, stets im Zentrum. Martin Barre fügt dem Klang nicht nur Härte, sondern auch Feinsinn hinzu. Seine prägnanten Soli ergänzen Ian Andersons Flötenarbeit auf wunderbare Weise.
´Stand Up´ ist kein pathetisches Meisterwerk lückenloser Perfektion. Es lebt von seinen kleinen Kanten, überraschenden Wendungen und der Spielfreude einer Band, die noch nicht in eigenen Konzepten gefangen war. Genau diese Frische macht ´Stand Up´ zu einem Album, das bei jedem Hördurchgang neue Details preisgibt und das Verständnis für die spätere, große Prog-Phase der Band maßgeblich prägt.
Für Sammler und audiophile Hörer erhielt ´Stand Up´ im Oktober 2022 eine aufwendige Neuauflage durch “Analogue Productions”: ein 180g Doppel-LP-Set bei 45 RPM, geschnitten von Kevin Gray direkt vom originalen UK-„Island“-Analogband. Die Pressung erfolgte bei RTI. Verpackt ist das Ganze in einem laminierten, im „Tip-on“-Verfahren gefertigten Gatefold von Stoughton Printing, inklusive der originalgetreuen, ausklappbaren Band-Pop-up-Grafik, wie sie schon die Erstauflage zierte.
Klanglich ist diese Version eine neue Referenz. Zudem reduziert das Verteilen der Musik auf vier Vinyl-Seiten Verzerrungen und Höhenverluste, so dass diese Reissue aktuell die wohl bestklingende Vinyl-Fassung von ´Stand Up´ ist. Und vielleicht steigt dieses melodische Werk von JETHRO TULL nun endlich zu den Lieblingsalben der Fangemeinde auf.