
MARIUS MÜLLER-WESTERNHAGEN – Das Erste Mal
1975/2025 (Warner Music Central Europe) - Stil: Rock/Pop
Von einem, der auszog, das Singen im klassischen Gesangsunterricht und das Gitarrenspiel autodidaktisch sowie ein paar Akkorde von Otto Waalkes zu lernen, und kurzerhand für Studioaufnahmen nicht weniger als LUCIFER’S FRIEND ins Studio schleifte.
Marius Müller-Westernhagen, in jungen Jahren natürlich noch mit dem doppelten Nachnamen unterwegs, veröffentlichte Anfang des Jahres 1975 sein Debüt ´Das erste Mal´. Ein Album, das zur allgemeinen Schande heute kaum einer kennt. Denn dieser musikalisch wilde Bastard aus Singer/Songwriter-Kitsch, Rock-Sperenzchen und Deutschrock-Drama hätte es durchaus verdient gehabt, mehr als nur eine Fußnote der Geschichte zu sein. Vielleicht war Deutschland anno 1975 einfach noch nicht bereit für einen singenden Schauspieler, der zwischen Kindheitstrauma, Flugangst und Penner-Pathos seine Seele auf Vinyl presst.
Marius Müller-Westernhagen, Jahrgang ’48, Papa ein depressiver Bühnenmensch, Mama mit mehr Ordnungssinn als Stolz auf den Rock’n’Roll-Sohnemann, stammt aus solidem Schauspiel-Haus. Schon mit 15 im TV, später beim WDR mit Wickie am Mikro, dann ein paar Skandälchen, ein paar Songs für politische Satire und eine frühe Band namens HARAKIRI WHOOM, laut und halbstark. Ab 1972 beginnt Westernhagen zu singen, so wie man raucht, tief, heiß, ungesund und sehr persönlich. Als er 1974 durch Zufall beim Soundtrack von “Supermarkt” Peter Hesslein von LUCIFER’S FRIEND kennenlernt, ergibt sich die Chance zum Studioaufenthalt, und prompt wird ´Das erste Mal´ aufgenommen. Peter Hesslein bringt gleich alle LUCIFER’S FRIEND-Musiker mit und die lassen ihre Heavy-Attitüde nicht zu Hause.
Peter Hecht ist ein Tastenmagier auf Steinway, Orgel, Synthie und Celesta und hat noch feine Arrangements für Streicher, Bläser und Chor parat. Dieter Horns ist ein Bassist mit Understatement und Groove, Herbert Bornhold ein Schlagzeuger mit Jazzhand und Hardrockfuß. Peter Hesslein selbst ist ein Gitarrenhexer, Arrangeur und Produzent, hier verantwortlich für Gitarren, Slide, Percussion und viele der Kompositionen. Dazu kommen Backing Vocals von Brigitte Blank, Sheila McKinlay und Ralle Oberpichler, der später bei Westernhagen und Lindenberg hängenbleibt.
Statt satanischen Hardrock oder ZDF-Schlagergeplänkel servieren Hesslein und Co. lupenreinen, dezent aufgebohrten Pop-Rock mit Schmackes und Seele. Diese Profis sorgen dafür, dass das Debüt nicht zu einer amateurhaften Selbstverwirklichungsnummer wird, sondern ein stilistisch überraschend breit aufgestelltes Werk. Irgendwo zwischen Liedermacher, frühem Deutschrock, orchestriertem Pathos und verrücktem Hippiepop à la Dschingis Khan trifft sich hier ein Mosaik an Klängen.
Die Songs sind die unschuldigen Lieder eines Aufmüpfigen. ´Horsti´ ist ein Einstieg wie ein Stolpern über die Bordsteinkante. Es beginnt akustisch, dann plötzlich Streicher, wilde Gitarre und ein “Lalala … Whohohohoo”, das nicht ganz weiß, ob es melancholisch oder besoffen sein will. ´Wir Waren Noch Kinder´ ist die Hymne des Werkes. Später live Kult, hier noch unschuldig und zerbrechlich. Unschuldige Zeiten treffen auf jugendlichen Pathos.
Dann folgt mit ´Marion Aus Pinneberg´ der flott überdrehte Ausgeh-Rocker mit Westernhagens dreckigem Charme, weil schließlich jeder eine Marion aus irgendeinem Kaff kennt. Doch der Klassiker ist ´Taximann´, schleichender Groove, jaulende Gitarren, eine gesungene Suff-Fahrt durch nächtliche Großstadtstraßen mit einer dramatischen Wendung. Ein echter Westernhagen-Moment. Hier hört man zum ersten Mal den Theo aus „Theo gegen den Rest der Welt“ singen.
Es wird allerdings noch persönlicher. Klavier, Streicher und Kloß im Hals. ´Wenn Jemand Stirbt´ singt Westernhagen wie einer, der das mit 15 erlebt hat, als sein Vater in der Realität starb. Selbst ein Dankeslied an seine Mutter, vielleicht etwas zu glatt, aber ehrlich gemeint, trällert er mit ´Sie War Auch Dann Noch Da´.
Dann noch eine tragische Knastbruder-Ballade mit viel dramatischer Atmosphäre. In ´Der Typ Auf Zelle Nr. 10´ trifft Akustikgitarre auf Storytelling. Ein bisschen Rio Reiser, ein bisschen Jacques Brel auf Deutsch. Noch eine fiebrige Abgehobenheit über Flugangst und Whiskey direkt nach dem Aufruf ´Fasten Seat Belt´ und die Band hebt nach der Stewardess-Ansage, gesprochen von Katrin Schaake, kurioserweise wirklich ab. Letztlich noch ein loser und gescheiterter Lebensentwurf mit großem Mitgefühl im Walzertakt von ´Es Geht Mir Wie Dir´ und ein würdiger letzter Akkord im kurzen ´Epilog´ über Freiheit, Menschlichkeit und Liebe.
Kein Kitsch, kein Kalkül, einfach Marius. ´Das erste Mal´ ist nicht das durchkalkulierte Debüt, es ist das Soundportrait eines Suchenden, der mehr kann als Schauspielerei. Kein Wunder, dass Songs wie ´Wir Waren Noch Kinder´ oder ´Taximann´ später zum festen Live-Repertoire gehören, sie tragen die künftige Marius Müller-Westernhagen-DNA bereits in sich: rotzig, romantisch und rebellisch. Allein seine großen und bekannten Klassiker sollten in Zukunft dieses Werk noch übertreffen.
Und für den Re-Release 2025: Unbedingt auf Vinyl hören, mit Kippen und Whiskey, wegen der Patina, wegen der Ehrlichkeit. Und wegen Marius.