
Es ist ein kleiner Glücksfall, dass HALF PAST FOUR fast zehn Jahre nach ihrem letzten Lebenszeichen mit einem neuen Album um die Ecke kommen. Gerade einmal 34 Minuten lang, ist es allerdings bis zum Rand mit cleverem Songwriting gefüllt, mit bissigem Humor, musikalischer Finesse und einer verspielten als auch messerscharfen Energie. ´Finding Time´ heißt das gute Stück, und es ist ein echter musikalischer Gewinn, sofern der Hörer gerne Progressive Rock, Jazzrock und Avantgarde goutiert. Denn stilistisch bewegt sich die Band irgendwo zwischen Frank Zappa, KING CRIMSON, Kate Bush und DISTRICT 97 mit einem ganz eigenen Witz und modernen Spin.
HALF PAST FOUR existieren schon eine ganze Weile, seit 2005 in aktueller Konstellation. 2008 erschien das Debüt ´Rabbit In The Vestibule´, gefolgt von ´Good Things´ (2013) und der 28-minütigen EP ´Land Of The Blind´ (2016), für viele de facto schon ihr drittes Album. Jetzt also endlich ´Finding Time´, entstanden in einer Zeit der inneren Einkehr, der Re-Evaluierung, des Innehaltens. Sechs neue Songs, kein unnötiger Bombast und keine Soloschlachten, sondern ein klug durchdachtes Prog-Album für Herz und Hirn, manchmal sogar für Bauch, Beine und Po.
´Tomorrowless´ eröffnet das Album und der Track ist tanzbar, ja, fast schon funky. Kyree Vibrants Stimme ist dabei das Zentrum des Geschehens, kraftvoll, schräg und absolut einzigartig. Der Text ersinnt eine Art Öko-Dystopie über Mikroorganismen, die vielleicht keinen Morgen erleben. Doch der Song sprüht vor Leben. ´Far Away Here´ beginnt hingegen mit jazzigen Fusion-Vibes und wandelt sich dann in ein bluesrockiges Brett, bei dem Gitarrist Boris Kalantyr richtig aufdreht. Ein Song, der wächst, sich dreht und am Ende mit einem Moog-Solo versöhnt.
´Shake Your Head´ zeigt als Siebenminüter wie tight diese Band zusammenspielt. Die Rhythmusgruppe um Bassist Dmitry Lesov und Schlagzeuger Roberto Bitti treibt das Ding souverän nach vorne, während Igor Kurtzman am Keyboard und Boris Kalantyr an der Gitarre sich Raum für Spielereien nehmen. Und Kyree Vibrant singt über das Tanzen auf ihrem eigenen Grab. Bei ´Igguana´ lässt jedoch Kate Bush grüßen, MoeTar blinzeln um die Ecke, und Kyree Vibrant liefert eine Performance zwischen Theater, Wahn und Zärtlichkeit ab.
´Branches´ beginnt nochmals wie Kate, driftet dann aber in einen eleganten Prog-Walzer samt butterweichem Fretless-Bass ab. Echte Poesie und Melancholie trifft hier auf feinste Arrangements und ein Solo von Boris Kalantyr, das David Gilmour-Energie atmet. Und dann ist da noch das finale ´Underbelly´, düster, funky, mit 60s-Orgel-Vibes, politischem Subtext und völlig durchgeknalltem Ende. Erst flüstert Kyree Vibrant wie ein dunkler Engel, dann predigt sie wie eine zornige Prophetin, während die Band irgendwann in einen irren Chill-Jazz-Part abdreht. Wild.
Wer ein wenig Zeit findet, sollte daher unbedingt HALF PAST FOUR hören. ´Finding Time´ ist kurz, aber vollgepackt, ist komplex, verspielt, aber nie verkopft. Es könnte genau das Stück musikalische Verrücktheit sein, das jeder gerade benötigt. Und wer Kyree Vibrants Gesang noch nie gehört hat, wird sich fragen, wie das überhaupt passieren konnte.
(8,5 Punkte)